Zeit der Weisen Alten

Ich hab eine runzlige Alte geseh’n, ihr Kleid war so schwarz wie die Nacht,
ihre Hand war leer, doch ihr Herz war voll, sie hat mir das Wissen gebracht

(Lebenslied, Heike Panten)

Wenn wir uns die Schätze unserer AhnInnen zu Herzen nehmen, werden wir selbst zu den AhnInnen, die Kraft und Weisheit an die nächste Generation weitergeben können, an unsere leiblichen und geistigen Töchter. *

Ich bin in einer Zeit groß geworden, da galt: was alt(modisch) ist kann weg. Volkstanz zum Beispiel war altmodisch. Von alten Hüten war die Rede und Zöpfen, die abgeschnitten werden müssten. Die Generation der 50er/60er Jahre wollte sich von Erstarrungen, Deutschtümelei und der Last zweier verhängnisvoller Kriege befreien. Worte wie ‚Tradition’ und ‚Ahnen’ hatten einen schlechten Beigeschmack. Im Wirtschaftswunder riß dann zunehmend die Verbindung zwischen den Generationen und auch zu Mutter Erde ab. Alte Menschen gehörten plötzlich zum vermeintlich nutzlosen ‚alten Eisen’, ihre Weisheit war nicht mehr gefragt.

Aber ein Mensch ohne Vergangenheit ist wie ein Baum ohne Wurzeln, dem es an lebendiger Kraft fehlt. Ob wir es wollen oder nicht, wir stehen „auf den Schultern unserer AhnInnen“** (ein bedeutendes Motiv alter Stickereien), ihr Herz schlägt durch unseres. Gut ist es, sich dessen bewusst und dafür dankbar zu sein. Nicht für Alles, aber für Vieles. Das scheint mir wichtig: Von meinen AhnInnen, von den Alten, von den LehrerInnen, (Wahl)Müttern, Großmüttern und Tanten das zu nehmen, was stark macht, dafür zu danken - und das, was schwächt, bei ihnen zu lassen.

Wenn wir in der Geschichtsschreibung und Archäologie nach der Weisheit der Alten suchen, gilt es, zwischen den Zeilen zu lesen und anders zu graben, besonders wenn es um Frauenweisheit geht. Zum Glück gab und gibt es Nischen, in denen sie überlebt hat, gut verborgen und geschützt in Mythen und Geschichten, in Naturwissen, Symbolen, Liedern und Tänzen, im Frauenalltag, bei der Arbeit mit Nadel und Faden, im Garten, beim Kochen und in der Heilkunde. Riesig ist in den letzten Jahrzehnten die Sehnsucht nach der Weisheit unserer Großmütter geworden. Wir sind unsere Generationenghettos leid. Au-Pair-Omas werden gesucht, Großmütter-Räte treffen sich, Mehrgenerationenhäuser entstehen. Vieles ist noch zu entwickeln, vor allem würdige und lebendige Lebensformen bei Krankheit und im Alter.

Diese Alten, sie wissen wie Überleben möglich ist in harten Zeiten, im hohen Norden, im Winter, wie sie ein wärmendes Feuer schüren und die Gemeinschaft durchbringen können. Wir lernen von ihrem Wissen um die Zerbrechlichkeit des Lebens und zugleich der Unendlichkeit von allem. Nichts geht jemals verloren, alles sucht ein Gleichgewicht/einen Ausgleich. Wenn wir tanzen, sind sie bei uns, die vor uns diese Tänze getanzt und die Lieder von Freud und Leid gesungen haben, die gewusst haben, dass Tanzen aufrichtet, Leichtes genussvoller macht und Schweres erträglicher. Dass es uns Lebenskraft, Eingebundensein, Sinnlichkeit und Gesundheit zu schenken vermag, Meditation und Gebet sein kann. Sie tanzen unsichtbar hinter und mit uns. Denn im Tanz, wenn wir uns ganz hingeben, werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins.

Gerne suchen wir nach der Weisheit der Alten in Ländern, deren Traditionen und Tänze besser erhalten sind oder in vergangenen Kulturen mit starken Frauengestalten und weiblichen Bildern des Göttlichen.

Großmütter und Göttinnen können uns an weibliche Weisheit erinnern, aber der Kern liegt in uns selbst und will dort geweckt und entwickelt werden. Dafür brauchen wir diejenigen, die ein ‚Mehr’ an Weisheit haben und leben. Wir brauchen alte Menschen und LehrerInnen, aber auch Begegnungen z.B. mit Tanzschwestern und mit den ganz Jungen. Denn Weisheit ist nicht unbedingt alters- oder statusabhängig. Wir entdecken sie manchmal bei ganz kleinen Kindern, die noch unverstellt sind. Es ist die Qualität der Erkenntnis größerer Zusammenhänge, Weitsicht und Einsicht, der Blick für Relativität und zugleich Einssein von allem, soziale Kompetenz gepaart mit Eigensinn und Humor. Diese Fähigkeiten entstehen im All-Tag, durch gelebtes Leben, oft genug auch durch Krankheiten, Verluste und die Begegnung mit Sterblichkeit und Tod, also durch die Herbst- und Winterthemen des Lebens. Alte Weisheit hält sich gerne verborgen. Sie will unmittelbar erfahren und weitergegeben werden. Diesbezüglich bergen traditionelle Tänze einen großen Schatz, zu dem unser Körper der Schlüssel ist. Wir machen elementare Erfahrungen wie ‚Weniger ist mehr’ (kleine feine Bewegungen bringen ein Maximum an Energie) oder ‚Nachgeben und zugleich Aufrichten’ schenken Kraft und Würde.

Wenn wir uns mit der Lebenszeit der Weisen Alten beschäftigen, kommen wir mit unseren eigenen Müttern, GroßMüttern und AhnInnen in Kontakt. An ihren Feuern sind große Schätze verborgen. Um sie zu finden müssen wir oft tief in der Asche graben. Ein alter Satz lautet ‚Tradition bedeutet nicht, die Asche zu bewahren, sondern den Funken weiterzugeben. Auf der Suche nach diesem Funken kommen wir auch mit Schmerz in Kontakt, mit ungelebtem Frauenleben, mit der Vernichtung der weisen Frauen/Hexen, mit Selbstverleugnung und Täterinnenschaft. Unsere unmittelbaren AhnInnen sind nicht immer das, was wir gebraucht hätten, um stark zu werden. Dennoch - ihre Geschichte und ihre Kraft will geborgen werden, denn wir sehnen uns danach, vollständig zu sein.

Dort wo unsere leiblichen Mütter oder Großmütter begrenzt waren, gab es andere, vielleicht Tanten, Nachbarinnen und nicht zuletzt unsere geistigen Mütter. Drei von Ihnen, die mir wesentliche Impulse für mein Leben, Forschen und Handeln gegeben haben, nenne ich scherzhaft ‚Meine drei Marien’ (Maria Mies, Marija Gimbutas und Marie König). Von ihnen habe ich einen Faden erhalten, den ich verwebe und von Herzen in die nächste Generation weitergebe. Ich bin sicher, jeder Mensch hat solche ‚Marien’.

Nicht nur in traditionellen Tänzen, auch in der Natur können wir mit der Weisheit der Alten in Kontakt treten. Nicht umsonst haben Menschen uralte Bäume zu ihren Treffpunkten und Tanzplätzen gemacht – in Deutschland ebenso wie in den süd- und osteuropäischen Ländern. Diese ‚Stammbäume’ gehören zu den ältesten Lebewesen auf der Erde. Weibliche Gottheiten wie Aphrodite, Freya oder ihre christliche Nachfolgerin Maria werden in ihnen verehrt. Bei uns sind es Linden, Eichen und Weißdornbüsche, auf Kreta etwa alte Dorfplatanen, heilige Myrtenbüsche und uralte Olivenbäume. Achtungsvoll werden sie ‚Maria in der Linde’ ‚Allerheiligste Myrtenfrau’ oder zärtlich ‚Mama Olive’ genannt. Mit bis zu 3500 Jahren reichen ihre Wurzeln in minoische Zeiten hinab. Manche sind innen hohl, aber der Lebenssaft strömt seit Jahrhunderten unter ihrer rauen rissigen Rinde, die an die Falten einer alten Frau erinnert. In ihrem Schutz zu tanzen, zu sitzen, ihnen zu lauschen, kleine Gaben zu bringen und Tamata (Weihtäfelchen) in die Äste zu hängen, kann uns an unsere weiblichen Wurzeln erinnern und an das, was überdauert. In ihrer Gegenwart finden wir Rat und können unser Persönliches in eine größere Zeitlandschaft einordnen.

In der Schwarzen Lebenszeit sind wir naturgemäß mit Endlichkeit, Krankheit, Trauer, Tod, Lösung, Wandlung, aber auch mit Weisheit, Wertschätzung und Weitergabe unseres Wissens/unseres Erbes befasst. Es gibt einen reichen Schatz traditioneller und neuer Tänze, der diese Prozesse rituell begleiten kann.

Im Tanzritual zur Blauen und Schwarzen Lebenszeit ehre ich mit den Frauen im Kreis die Mütter und Vormütter für das, was sie uns mit auf den Weg gegeben haben. Im Tanz ‚O Mama’ *** holen wir den Faden auf der Herzebene bei ihnen ab, verweben ihn mit unserer ganz eigenen Kraft und reichen ihn schließlich von Herz zu Herz an die Generation der Töchter weiter.

Dreimal hast Du in den Spiegel geseh’n, am Morgen am Mittag, bei Nacht.
Nun nimm Dein Leben und geh’ Deinen Weg, Du hast den Mut und die Macht
(Lebenslied, Heike Panten)

Birgit Wehnert, www.kreistanzen.de

* Ich beziehe mich in diesem Artikel vorwiegend auf die weibliche Weisheitstradition.
**
»Nur weil wir auf den Schultern unserer Ahninnen stehen, sind wir groß« (Antje Schrupp)
*** Tanzbeschreibung im Anhang

Fotos:
Nr. 1+3: Weise Alte - Dreitausendjähriger Olivenbaum, Kreta
Nr. 2: Frau mit Ahnin, nach einem alten osteuropäischen Muster (Stickarbeit von Uta Brandmüller)
Nr. 4: Uralte ‚Allerheiligste Myrtenfrau‘, Kreta
© Birgit Wehnert

Literatur:
Birgitta M. Schulte: Der weibliche Faden – Geschichte weitergereicht (Geistige Mütter und ihre Töchter)
Antje Schrupp zu Affidamento und Autorität, www.antjeschrupp.de
Barbara Walker: Die Weise Alte
Clarissa Pinkola Estés: Der Tanz der Großmütter
Velma Wallis: Zwei alte Frauen
Carol Schaefer: Die Botschaft der Weisen Alten
Marija Gimbutas: u.a. Die Sprache der Göttin
Marie König: u.a. Unsere Vergangenheit ist älter
Maria Mies: u.a. Eine Kuh für Hillary, Das Dorf und die Welt

Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Facheitschrift für meditativen Tanz 'Neue Kreise ziehen' Ausgabe 4-2012

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