Früher, zu der Zeit, als ich an der Tanzakademie studierte, konnte man nur in den Fächern Bühnentanz oder Tanzpädagogik - sowohl Ballett, Charaktertanz als auch Modern-Dance - sein Studium abschließen. Aber vor ungefähr vierzig Jahren veränderte sich das Angebot und seitdem war es auch möglich, einen Abschluss als Volkstanzdozent zu machen. In diesen Jahren blühte in den Niederlanden die rekreative Volkstanzbewegung und es gab eine enorme Nachfrage nach Menschen, die als Fachmensch Volkstanzunterricht erteilen konnten. Die Rotterdamer Tanzakademie bekam einen neuen Jahrgang Studenten, die an dieser Studienrichtung von Volkstanzdozenten teilnehmen wollten. Balkantänze waren in diesen Jahren ziemlich 'in'.

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich einmal mit einem Studenten dieser neuen Studienrichtung hatte, der ein passionierter Betreiber dieser Balkantänze war. Er wusste, dass ich mich mit russischem Tanz beschäftigte. In unserer damaligen Diskussion ging es über die Werte von 'authentischen Tänzen'. Ich erinnere mich noch gut an seine Aussage, aus der Ärger sprach: "Volkstanz - da sollen die mit ihren 'Ballettpfoten' von wegbleiben!". Er zielte auf die russischen Choreographen, die den Volkstanz ihres authentischen Charakters entledigten. Er wollte sich lediglich mit 'wirklich authentischen Volkstänzen' beschäftigen, so wie Theodor Vasilescu und Georgi Kinski diese in den Niederlanden präsentierten. Ob diese Tänze, die diese rumänischen bzw. bulgarischen Tanzlehrer damals unterrichteten, authentisch waren, konnte ich nicht (und kann ich immer noch nicht) beurteilen. Aber die Linie, die dieser Student zog, war ganz deutlich. 'Authentisch' musste es für ihn sein - der Rest war billiger Mist. Die Tänze, an denen sie sich mit ihren 'Ballettpfoten' zu schaffen gemacht hatten, die waren verseucht und besudelt. Über derart verwerfliche Produkte wurde von ihm resolut der Bannfluch ausgesprochen.

Authentisch! Ich höre dieses Wort des Öfteren erklingen, wenn es um Volkstanz geht. Was kann man in unserer Volkstanzwelt eigentlich 'authentisch' nennen? Von allen Tänzen aus dem gängigen Volkstanz-Repertoire sind wahrscheinlich mehr als 90% nicht unter dieser Bezeichnung einzuordnen. Aber man kann sich natürlich auch zugleich die Frage stellen, ob das so wichtig ist. Ein Tanz soll einen Zweck erfüllen und dieser Zweck ist, den Menschen die Volkstanz als Hobby betreiben, Tanzfreude zu bereiten. Das gilt für eine einheimische Bevölkerung, die ihre eigene überlieferte  Tanztradition in Ehren hält ebenso wie für die fremden Betreiber von internationalem Volkstanz. Vielleicht können wir unsere Tanzfreude am besten in den authentischen überlieferten Tänzen bestimmter Völker finden. Aber wir können dies ebenso in den Kreationen von Choreographen der ehemaligen sozialistischen Ostblockländer, amerikanischen Line-Dance-Erfindern oder von Personen, die christlich-religiöse Tänze kreieren. Es geht doch darum, was uns anspricht und was wir im Tanz suchen. Und neu kreierte Tänze, gleich aus welchem Gebiet, befriedigen nun einmal ein bestimmtes Bedürfnis - sonst würden sie nicht existieren. Und ob neu kreierte Tanzrichtungen so wie schamanischer Tanz, Urtanz, amerikanischer Line-Dance, religiöse Tänze oder Sacred Dance weniger wertvoll sein sollten - das ist nicht an mir, darüber zu urteilen.

Volkstänze aus den ehemaligen Ostblockländern waren unter der kommunistischen Verwaltung eine Staatsangelegenheit geworden. Der Einfluss von Choreographenschulen und professionellen Ensembles dort veränderten die Tanztradition des Volkes. Volkstanz war natürlich immer schon Veränderungen unterworfen, auch bevor von Kommunismus oder Staatseinmischung die Rede war. Aber es ist ein Unterschied, ob Veränderungen von oben aufgezwungen (Staat) oder verboten (Kirche) werden, oder ob von Veränderungen als Folge ökonomischer und kultureller Entwicklungen die Rede ist.

Ich habe mir selber in der letzten Zeit öfter die Frage gestellt, welche Wichtigkeit oder welchen Wert authentisch überliefertes Tanzmaterial für einen nichteinheimischen Volkstanzbetreiber haben. Wenn ich sehe, welche der Tänze aus meinem Programm am besten auf den Tanz-Hitlisten ankommen, dann sind das selten die sog. 'authentischen' Tänze. Zum Glück treffe ich auch regelmäßig einzelne, die gerade dieses überlieferte reine Tanzmaterial mehr schätzen als die 'Choreographenarbeit'.

Dass neu kreierte Tänze im allgemeinen bei den betreffenden Zielgruppen gut ankommen, hat oft mit der Tatsache zu tun, dass die Person, die sie anbietet, offenbar eine gute Nase dafür hat, was der Erwartungshaltung ihrer Zielgruppe entspricht. Eine Teilnehmerin, mit der ich bei einem Wochenendseminar ins Gespräch kam, sprach ihre Vorliebe für Reigentänze aus. Sie fand Reigentänze wertvoller als irgendwelche anderen, weil sie 'ursprünglicher' seien. Dies ist natürlich eine Aussage, die zu bestreiten ist. Neubedachte Reigentänze können wesentlich weniger 'ursprünglich' sein als eine Polka. Nach meiner Auffassung ging es ihr darum, dass ein Tanz ihre Erwartungshaltung befriedigen sollte, und natürlich spricht dann Voreingenommenheit ein Wörtchen mit.

Der Tanz 'Djewitscha chorowodnaja' aus meinem Programm fällt in die Kategorie der lyrischen Mädchenreigen. Den traditionellen Mädchenreigen von Russland gleicht der hier besprochene Tanz nicht viel. Zunächst muss ein traditioneller russischer Reigentanz allein mit der eigenen Gesangsbegleitung ausgeführt werden. Dem entspricht kein einziger Reigentanz aus meinem Programm - also auch 'Djewitscha chorowodnaja' nicht. Es ist in unseren internationalen Volkstanzkreisen leider auch nicht üblich, seine eigene Begleitung zu singen. Bei uns ist es nun einmal üblich, die Tänze auf mechanisch reproduzierte Musik, die aus Lautsprechern erklingt, auszuführen. Wenn man sich in Russland mit traditionellen Tänzen beschäftigt, wird man immer damit beginnen, die Tanzlieder zu lernen. Erst danach kommen die Schritte und die Form des Tanzes an die Reihe.

In der Sowjet-Periode hat sich sowohl in der Bedeutung des Wortes Volkstanz als auch an seiner Ausübung das ein oder andere verändert.... Weiterlesen? Im Dateianhang findest du den vollständigen Artikel

Text und Fotos © Hennie Konings
Übersetzung: Doris Saisch