Sohn einer russischen Mutter

Meine Mutter, Nadja Kolesnikowa, ist in Dserschinsk in der Ukraine geboren,
einem kleinen Städtchen in der näheren Umgebung der Stadt Donetsk. Die Stadt
liegt im Donbas-Gebiet im Südosten der Ukraine. Wegen der Steinkohlegewinnung
und Industrie, die sich in diesem Gebiet befindet, ist Donetsk eine der
wichtigsten Regionshauptstädte der Ukraine. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts zogen viele Männer verschiedener Nationalitäten in dieses Gebiet,
um im Steinkohlebergbau ihr Brot zu verdienen. Unter ihnen waren Kosaken,
Tataren, Georgier, aber auch Bauern aus den ärmeren Landbaugebieten von
Russland. So zog auch mein Urgroßvater aus seinem Dorf im Kursk-Gebiet im Südwesten
von Russland ins Donbas-Gebiet. Die Sprache, die all die Bewohner der
umliegenden Städte mehr oder weniger beherrschten, war russisch. So entstand in
den Städten, die sich rund um die Kohlenminen bildeten, ein Schmelztiegel von
Nationalitäten, die russisch als gemeinsame Sprache angenommen hatten. Dserschinsk
ist eine kleine Stadt und die Städter schauten abwertend auf alle Dorfbewohner
herab. In den umliegenden Agrargebieten wird bis heute ukrainisch gesprochen. Meine
Mutter betrachtete sich selbst als Russin und als Städterin. Sie ist in einem
russischsprachigen Gebiet aufgewachsen und hat in der Schule ukrainisch als
Fremdsprache gelernt. Im zweiten Weltkrieg wurde sie als Zwangsarbeiterin nach
Deutschland deportiert. In einem Arbeitslager in der Nähe von Potsdam, in
welchem auch Niederländische Zwangsarbeiter untergebracht waren, lernte sie
meinen Vater kennen. Sie verliebte sich in ihn und ging nach der Befreiung mit
ihm zusammen in seine niederländische Heimat.

Ich bin ein halbes Jahr nach der Befreiung in den Niederlanden geboren. Als
Kind sang ich die russischen Lieder, die meine Mutter mir und meiner jüngeren
Schwester beibrachte. Ich erinnere mich auch daran, dass sie versuchte, mir das
Tanzen beizubringen. Sie nahm mich dann an die Hand, zog mich zu sich heran und
machte mit mir rund um den Tisch ein paar Schritte, die ich versuchte
nachzumachen. Um das Tanzgefühl zu stimulieren, sang sie zu den Schritten die
wir machten: ’Jantaturi-Jantaturi’. Ich habe als Kind oft miterlebt, wie sie
zusammen mit ihren russischen Freundinnen sang und tanzte. Das Tanzen fand ich
nicht so beeindruckend. Russische Lieder singen fand ich schön, obwohl es mir
das Gefühl gab, etwas zu tun, was ‚normale’ niederländische Kinder nicht taten.
Aber als ich 1956 als Zehnjähriger mit meiner Schwester in einem Kinderprogramm
mit russischen Liedern im Fernsehen auftrat, fand ich es doch ziemlich
spannend, denn ich war plötzlich der bekannteste Junge der ganzen Schule. Ich
habe mich als Kind schon ab und zu wegen meiner russischen Mutter als
Außenseiter gefühlt. Es war die Zeit des Kalten Krieges und es herrschte Angst
vor dem Kommunismus und der Bedrohung vor einem möglichen Atomkrieg. Die
Amerikaner waren unsere Freunde – die Russen unsere Feinde. Und meine Mutter
war Russin. Von ihr hatte ich gelernt, dass die Sowjet-Union das beste Land der
Welt ist und dass die Russen gute Menschen sind.

Als ich siebzehn Jahre alt war, fuhren wir zum ersten Mal nach Dserschinsk
zum Geburtsort meiner Mutter und ich lernte meine russischen Verwandten kennen,
von denen meine Mutter so oft gesprochen hatte. Dort machte ich die Erfahrung,
dass es bei ihnen ganz anders zuging, als in den Niederlanden. In den Familien
meiner niederländischen Verwandtschaft ging es schon anders zu als bei uns zu
Hause. Meine niederländischen Tanten waren zwar ganz nett, aber ich war mir
immer der Nüchternheit bewusst, die so bezeichnend ist für die Niederländer.
Meine Mutter sang oft einfach so vor sich hin und das waren schöne Lieder. Zusammen
mit den russischen Frauen wurde auch gesungen und das klang auch gut. Doch wenn
einmal bei einem Fest von meinen niederländischen Familienmitgliedern gesungen
wurde, dann war es meistens etwas Banales – nur eine Art ‚Humba-täterä’. Obwohl
ich sah, dass meine Familie dort in der Sowjet-Union bei weitem nicht den
Lebensstandard besaß, den wir damals in den Niederlanden bereits kannten,
fühlte ich bei ihnen viel menschliche Wärme. Es gab Raum für Emotionen und bei
Tisch wurde viel und vor allem schön gesungen. Wurde ein melancholisches Lied
angestimmt, dann kamen Emotionen hoch und es flossen Tränen. In den
Niederlanden genierte man sich, wenn derartige Gefühle hochkamen und man
empfand sie eher als peinlich. Emotionen zu äußern war bei meiner russischen
Familie selbst für die Männer völlig normal.

Während eines Festes, das zu Ehren unserer Ankunft in Dserschinsk gegeben
wurde, begannen zwei meiner Großtanten ein altes Volkslied mit unendlich vielen
Strophen zu singen. Ihre Köpfe einander zugeneigt sangen sie aus tiefster Seele
ein Lied, von dem ich nur wenige Worte verstand. Sie sangen zweistimmig und ich
hörte Intervalle und Harmonien, die ich prächtig fand. Den Anfang des Liedes
sangen sie noch sehr zurückhaltend, aber nachdem sie einige Strophen gesungen
hatten, wurde es lauter und ihr Gesang klang sehr durchdringend. Jede Strophe
endete einstimmig mit lang angehaltenem Ton. Ihre Stimmen klangen ganz anders,
als ich es von den russischen Frauen in den Niederlanden gewohnt war. Dieser
Moment hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich hatte das Gefühl,
dass die Gläser im Schrank jeden Augenblick zerspringen von den Schwingungen,
die meine Großtanten mit ihrem Gesang zustande brachten. Meine Mutter nannte
diese Art des Gesangs so wie die Tanten es taten Dorfgeplärr und sie verstand
nicht, dass ich ausgerechnet so ein Lied schön fand. Mein Onkel Tolja, der
jüngste Bruder meiner Mutter, war sehr talentiert. Er spielte Akkordeon und
konnte gut singen, aber vor allem war er ein talentierter Volkstänzer. Meine
Schwester feierte während unseres Aufenthaltes in Dserschinsk ihren sechzehnten
Geburtstag und zu dieser Gelegenheit wurde ein großes Fest für sie organisiert.
Es war Sommer, sonnig und warm, und dann wird dort draußen gelebt, gegessen und
gefeiert. Nachdem zunächst reichlich gegessen und viel gesungen wurde, spielte
der anwesende Bajanist (russischer Akkordeonspieler) eine Tanzmelodie und ich
sah meinen Onkel Tolja tanzen. Er war nicht der einzige der tanzte. Andere
Gäste tanzten nach Herzenslust mit. Wie die Männer tanzten, fand ich besonders
beeindruckend. Wenn ich in den Niederlanden die russischen Frauen gelegentlich
tanzen sah, empfand ich das nicht besonders spannend. Tanzen ist doch wirklich
nur etwas für Frauen, dachte ich damals. Mein Onkel strahlte Bravour aus, bewegte
sich elegant und doch sehr männlich und war ein einziges Energiebündel.
Außerdem tanzte er auch in der Hocke. Als siebzehnjähriger hatte ich eine gute
körperliche Kondition und versuchte, es ihm nachzumachen. Das glückte
ausgezeichnet. Die Begeisterung der Familie darüber, dass ich in der Hocke
tanzte, streichelte natürlich mein Ego enorm. Erst später begriff ich, dass in
diesem Sommer 1963 in
Dserschinsk mein Leben eine Wendung genommen hatte.

 

„Wolga“ und die Rotterdamer Tanzakademie

 Die beste Freundin meiner Mutter war Tante Maria. Sie kam auch aus Donbas.
Schon seit Beginn der 50er Jahre war sie die Gesangspartnerin meiner Mutter.
Sie traten auf unter dem Namen „Marianadja“. Als Kind durfte ich manchmal mit
zu ihren Auftritten. Zu Beginn der 60er Jahre leitete meine Mutter in Rotterdam
eine kleine Gesanggruppe, die sich „Wolga“ nannte. Wolga bestand aus fünf
Frauen, erweitert mit fünf niederländischen Männern. Tante Maria und meine
Mutter bildeten den Mittelpunkt von Wolga. Henk, der Sohn von Tante Maria, war
mein bester Freund, mit dem ich auch in einer Rock’n Roll Band spielte. Er
spielte bei Wolga Bajan (russisches Knopfakkordeon). Ich hatte bereits als Kind
Mandoline und Balalaika spielen gelernt, aber bei Wolga mit zu spielen reizte
mich nicht. Als Teenager hatte ich kein großes Interesse mehr an den russischen
Liedern, die ich aus meinen Kinderjahren kannte. Das Repertoire bei Wolga
bestand aus Liedern, die hier im Westen bekannt waren und beim Publikum immer
gut ankamen, so wie „Die Zwölf Räuber“, „Abendglocken“ oder „Kalinka“, aber
auch aus Zigeunerromanzen und populären russischen Liedern aus der
Vorkriegszeit. Nach unserem Urlaub in Dserschinsk zeigte ich bei der nächsten
Probe von Wolga, wie gut ich in der Hocke tanzen konnte und erntete erneut
Erfolg. Ich ließ mich überreden, bei Wolga mit zu machen, begann wieder
Balalaika zu spielen und wollte natürlich bei unseren Vorstellungen zeigen, wie
gut ich in der Hocke tanzen konnte. Mir war schon bewusst, dass es nicht
ausreichte nur ein paar Hockensprünge zu demonstrieren. Zwar zeigte mir meine
Mutter ein paar Tricks und Basisschritte, doch wurde mir ziemlich schnell klar,
dass ich Ballettstunden nehmen musste, wollte ich nicht als ungeschickter
Amateur angesehen werden. Der Ballettunterricht gefiel mir besser als ich es
mir jemals vorgestellt hatte. Scheinbar hatte ich Talent, machte die
Aufnahmeprüfung bei der Rotterdamer Tanzakademie und wurde angenommen.

Ich war siebzehn Jahre alt und wollte Balletttänzer werden. Doch in diesem
Alter ist man eigentlich schon zu alt, um noch eine solide technische Basis zu
legen die erforderlich ist, um im klassischen Repertoire etwas von Bedeutung zu
erreichen. Die Rolle vom Prinz im Schwanensee würde für mich nicht reserviert
werden, das begriff ich ziemlich schnell. Aber im Fach Charaktertanz erwies ich
mich als Talent. Während ich studierte, verdiente ich mir mit den Auftritten
mit Wolga ein bisschen Taschengeld und sammelte gleichzeitig viel
Bühnenerfahrung. Meine Tänze wurden bei Wolga die spektakulärsten Höhepunkte
des Programms.

 

Staatliches russisches Tanzensemble „Berjoska“

In meinem zweiten Studienjahr 1964 sah ich in der Rotterdamer Theater zum
ersten Mal in meinem Leben eine Vorstellung vom Tanzensemble Berjoska aus
Moskau. Das Ensemble bot ein Programm mit russischen Tänzen und ich war von
dieser Vorstellung tief beeindruckt. Die Perfektion, die schönen lyrischen
Mädchenreigentänze, die Bravour, mit der die Jungens tanzten und die
spektakulären Sprünge und Hockschritte, die sie ausführten, die Musik – ich
fand es mit einem Wort gesagt fantastisch. Die Choreografin des Ensembles hieß
Nadjeschda Nadjeschdina. Sie erschien am Ende der Vorstellung auf der Bühne, um
einen frenetischen Beifall in Empfang zu nehmen. Diese Frau hat einen tiefen
Eindruck auf mich gemacht. Sie hatte eine typisch russische Frisur mit einem
dicken Zopf, der wie eine Krone um ihr Haupt gewunden war. Mit einem
strahlenden Lächeln schaute sie ins Publikum. Diese Frau also hat sich all die
schönen Tänze ausgedacht. Als Tanzakademiestudent träumte ich davon, irgendwann
einmal in ihren Choreografien mittanzen zu dürfen. Es war mir schon bewusst,
dass ich in der Ballettwelt niemals ein Star werden würde. Doch wenn im
Charaktertanzunterricht russisch getanzt wurde, war ich der beste von allen
Jungen auf der Tanzakademie, denn den russischen Tanz fand ich am
anziehendsten. Bereits damals reifte in mir der Gedanke, in der Sowjet-Union
mein Studium fortzusetzen und mich in russischem Volkstanz zu spezialisieren.

 

Tanzunterricht in der Sowjet-Union

Im Juni 1968 machte ich mein Abschlussexamen an der Rotterdamer
Tanzakademie und erhielt mein Diplom für Bühnentanz und Tanzpädagogik. Im
August stieg ich voller Erwartung in den Zug in die Sowjet-Union um dort weiter
zu studieren. Wo ich Unterricht nehmen sollte wurde durch meinen Onkel Tolja
geregelt. Er war mit einem Tanzlehrer befreundet, der im Kulturpalast in
Gorlovka arbeitete, einer größeren Stadt die nicht weit entfernt von
Dserschinsk lag. Er hieß Gennadi Leschenko. Ich hatte ihn bereits 1966 bei
einem Besuch bei meiner Familie kennen gelernt. Im Kulturpalast von Gorlovka
unterrichtete auch ein junger Tänzer, der mit den Jungen an diesen
verblüffenden akrobatischen Tricks arbeitete. Täglich nahm ich den Bus von
Dserschinsk nach Gorlovka und lernte dort viele neue Schritte und Variationen.
Der Plan, nach meiner Rückkehr nach Hause eine eigene russische Tanzgruppe in
Rotterdam zu gründen, begann in meinem Kopf Formen an zu nehmen. Leschenko
leitete auch verschiedene Amateur Volkstanzgruppen und wenn es eine Aufführung
gab, saß ich im Saal. Er unterrichtete auch Tänze von anderen Völkern der
Sowjet-Union so wie ukrainisch, tatarisch, georgisch usw. Aber diese Tänze
interessierten mich weniger. Ich wollte nur russisch tanzen – genauso wie ich
es bei Berjoska gesehen hatte.

Das einzige professionelle Ensemble, das ich bis dahin in einem Theater
gesehen hatte, war Berjoska und ich erwartete, dass ich bei Leschenko so etwas
lernen würde. Die Schrittkombinationen und der Stil in seinem Unterricht waren
anders als ich es von den Charaktertanzstunden an der Rotterdamer Tanzakademie
kannte. Aber genauso wie ich es bei Berjoska gesehen hatte, war es auch nicht.
Später begriff ich, dass sein Unterricht auf die Schule von Igor Mojsejev
zurückgriff. Mojsejev war der berühmteste Choreograf der Sowjet-Union. Er hatte
Tänze von den Völkern der Sowjet-Union choreografiert und Leschenko sprach
immer voller Respekt und Bewunderung über ihn. Das Training bei Leschenko
bestand aus Übungen an der Stange, genau wie bei Charaktertanz und Ballett.
Dass ich dort einen Tanzstil lernte, der nicht sehr viel Ähnlichkeit mit den
Tänzen zeigte, die ich bei Festen gesehen hatte, warf schon damals bei mir die
Frage auf, wie denn dann der echte traditionelle russische Volkstanz aussieht.
Was von meinen Verwandten bei Festen getanzt wurde, betrachtete ich als
„einfach so“ tanzen und nicht als eine unverfälschte spontane folkloristische
Tanzäußerung. Das, was ich bei Leschenko lernte, war ein Tanzstil, den nur gut
trainierte Amateure oder professionelle Tänzer zustande brachten.

 

Russisches Gesang- und Tanzensemble „Kalinka“ aus Rotterdam

Als ich wieder zurück in den Niederlanden war, konnte ich mit meinem Talent
und meinem Wissen auf dem Gebiet des russischen Tanzes nicht viel mehr erreichen,
als Amateure zu unterrichten. Ich hatte einen Traum, der verwirklicht werden
sollte, und das war die Gründung eines russischen Volksgesang- und
Tanzensembles. Zusammen mit meiner Mutter gründete ich im Dezember 1968 das
russische Amateurensemble Kalinka. Einige Mitglieder von Wolga waren enthusiastisch
genug bei Kalinka mit zu machen, doch wir hatten viel mehr Menschen nötig. Ich
besuchte alle russischen Frauen die ich kannte, um Mitglieder zu werben. Mit Begeisterung
schilderte ich meine Pläne und hoffte, bei ihnen gute Gesangstimmen für den
Chor zu finden. Gleichzeitig versuchte ich auch ihre Kinder zum Mitmachen zu
bewegen und tanzen zu lernen. Paul Vugts, ein Freund von mir, war von Beruf
Chordirigent und wollte gerne mitarbeiten. Ein anderer Freund, Hans Eisma,
hatte bei Wolga einige Jahre Balalaika gespielt. Er stellte ein Balalaika
Orchester zusammen und leitete es. So ging Kalinka an den Start und nach langem
Schuften und einem Kommen und Gehen vieler Menschen entstand schließlich ein
Ensemble mit einem Chor, einem Balalaika Orchester und einer Tanzgruppe. Mit
Kalinka haben wir fantastische Zeiten erlebt. Gemeinsam mit renommierten
Künstlern gaben wir Vorstellungen und waren mehrmals in Fernsehsendungen zu
sehen. Wir arbeiteten an einem russischen Gala Abend mit, der im Rotterdamer
Konzertgebäude „De Doelen“ stattfand. Dort standen wir zusammen auf der Bühne
mit Künstlern aus der Sowjet-Union sowie mit dem damals berühmten Sänger Iwan
Rebroff, mit dem wir auch zwei mal im niederländischen Fernsehen zu sehen und
zu hören waren. Einige Male war Kalinka auch im russischen Radio zu hören.

Um einen bezahlten Job als Tänzer zu bekommen, tanzte ich 1969 beim
ehemaligen Rotterdamer Tanzzentrum vor, einer Modern Dance Kompanie der Stadt
Rotterdam. Sie suchten junge Männer und obwohl ich in Modern Dance nun nicht
gerade ein auffallendes Talent war, wurde ich doch angenommen. Was war ich
stolz auf meinen ersten Vertrag bei einer professionellen Tanzgesellschaft.
Beim Rotterdamer Tanzzentrum lernte ich das Fach eines ausführenden Tänzers
kennen und arbeitete mit namenhaften Choreografen wie Lucas Hoving und Pina
Bausch. Mit Modern Dance habe ich siebzehn Jahre mein Brot verdient, aber der
russische Tanz blieb doch meine Passion und ich setzte alles daran, damit
Kalinka nicht zu kurz kam.

 

Sowjet-Choreografen

Ich hatte seit den 60er Jahren die Werke der drei wichtigsten Choreografen
der Sowjet-Union in Theatern in Moskau oder den Niederlanden gesehen. Als
erstes hatte ich mehrere Male Vorstellungen von Berjoska gesehen und die
meisten Choreografien von Nadjeschdina gefielen mir. Auch die Begleitmusik fand
ich schön und geschmackvoll. Das Tanzensemble von Igor Mojsejev hatte ich in
den 70er Jahren in Moskau auch einmal gesehen, aber diese Vorstellung fand ich
nicht so besonders. Später sah ich eine Vorstellung in Amsterdam die zwar etwas
besser war, aber viel enthusiastischer wurde ich davon auch nicht. Seine
russischen Tänze machten nur einen kleinen Teil des Programmes aus und sie
waren in choreografischer Hinsicht denen von Nadjeschdina weit unterlegen. Auch
die Musik zu seinen Choreografien fand ich bei weitem nicht so schön wie die
bei Berjoska. Außerdem musste sein Orchester alle Stile spielen von georgisch,
moldawisch bis Tarantella. Darum benutzte Mojsejev ein Symphonie Orchester,
ergänzt mit Akkordeons. Da klang das Orchester von Berjoska doch viel schöner.
Dort hörte man die warmen Klänge der Balalaikas und Domras (Zupfinstrumente).
Die auf Volkstanz basierten Choreografien, die ich außerdem bei Mojsejev sah, waren
Tänze von verschiedenen Völkern der Sowjet-Union. Aber auch ein argentinischer
Tango, eine Tarantella, ein mongolisches Märchen und Nummern wie „Fußball“,
„Ein Tag auf dem Schiff“, „Eislaufen“, „Partisanen“ usw. standen auf dem
Programm. Das einzige Stück von Mojsejev, das mir bis heute gut gefällt, ist
seine Stadtquadrille. Aber auch nur wegen der gekonnten Darstellung der Tänzer
und nicht wegen der choreografischen Qualität.

 

Tatjana Ustinowa

Ich hatte 1969 in
Moskau eine Vorstellung vom Pjatnitski Volkschor gesehen, einer Gesellschaft
mit einem Chor, einem Orchester und einer Tanzgruppe. Der Chor war mir bekannt,
denn wir hatten zu Hause Schallplatten von diesem Ensemble und die meisten
Lieder, die darauf zu hören waren fand ich wundervoll. Aber die Choreografien
die ich in dieser Vorstellung sah, sprachen mich noch viel mehr an als alle
anderen, die ich davor gesehen hatte. Die Choreografin dieses Ensembles war
Tatjana Ustinowa. Diese Vorstellung war in jeder Hinsicht ein einschneidendes
Erlebnis für mich. Vom ersten Augenblick an war es mein sehnlichster Wunsch,
Ustinowas Tanzstil näher kennen zu lernen. Was mir am meisten an ihrer Arbeit
gefiel war, dass sie den Chor in einige ihrer Choreografien integrierte. Die
Chormitglieder tanzten mit einfachen Schritten die gemeinsamen Figuren mit und
die Tanzgruppe gestaltete den komplexeren Teil. In Ustinowas Choreografien sah
ich auch Unterschiede in den Tanzstilen und die Kostüme glichen auch mehr den
folkloristischen Trachten der verschiedenen Regionen von Russland. Ihre
Choreografie „Timonja“ – ein Tanz aus dem Kursk-Gebiet, „Brjanschina“ – eine
Choreografie basierend auf der Folklore aus dem Brjansk-Gebiet, „Moskowskije
Chorowodi“ – Tänze aus dem Moskau-Gebiet sowie viele andere ihrer Werke empfand
ich allesamt als Juwelen. Gesang und Tanz bildeten eine Einheit, Unstinowas Inszenierungen
waren spritzig und ihre Tänzer muteten nicht so ballettartig und manieriert an.

 Mitte der 70er Jahre sah ich erneut eine Vorstellung vom Pjatnitski
Volkschor in Moskau. Nach der Vorstellung fasste ich mir ein Herz, ging zum
Künstlereingang des Theaters und es glückte mir, Ustinowas Bekanntschaft zu
machen. Ich stellte mich vor, erzählte dass ich in Rotterdam ein russisches
Amateur Ensemble leite und dass ihre Arbeit eine große Inspirationsquelle für
mich ist. Ustinowa hatte zu der Zeit bereits ein gewisses Alter erreicht, doch
diese kleine Frau beeindruckte und strahlte eine grenzenlose Energie aus.

 Als ich 1986 meine aktive Tänzerlaufbahn beendete, fasste ich den Plan,
Ustinowa erneut aufzusuchen um sie zu fragen was ich tun muss, um in Moskau
eine Weiterbildung zu machen.

 

Weiterbildung in Moskau

Ein Stipendium des niederländischen Kulturministeriums ermöglichte mir ein
weiterführendes Studium in Moskau. Für Ausländer war das damals allerdings nur
möglich beim GITIS (staatliches Institut für Theaterkünste). Beinahe alle
Tanzstudenten kamen dort hin, um Ballettunterricht nach der Vaganowa-Methode zu
nehmen. Die Dozenten, die an diesem Institut Volkstanzunterricht gaben, haben
bei Mojsejev getanzt. Doch dieser Stil interessierte mich nicht. Ich wollte die
Choreografien von Ustinowa kennenlernen und mir ihren Stil zu Eigen machen.
Also ging ich für einen vorbereitenden Besuch nach Moskau und bat Ustinowa um
Mithilfe bei der Möglichkeit an ihrer Ausbildung teilzunehmen. Ich wusste, dass
es beim Pjatnitski Volkschor eine eigene Chor- und Tanzausbildung gab. Diese
Ausbildung wurde geleitet von Olga Solotowa, einer ehemaligen Tänzerin und
Solistin des Pjatnitski Volkschores. Später arbeitete sie als Ustinowas
Assistentin und als 1970 die Tanzfachausbildung beim Pjatnitski Volkschor ins
Leben gerufen wurde, hat Ustinowa sie dort als Direktorin angestellt. Es war
noch nie vorgekommen, dass ein Ausländer an dieser Ausbildung teilnehmen
wollte. Ich hatte ein niederländisches Stipendium und war verpflichtet einen
Nachweis meines Studiums von dem Institut zu erbringen, an dem ich studiert
hatte. Offiziell hätte mein Studium nur beim GITIS stattfinden können. Ustinowa
nahm Kontakt mit dem Direktor des GITIS auf und es konnte eine inoffizielle
Regelung gefunden werden. So ging mein Wunsch doch noch in Erfüllung und ich
konnte meine Ausbildung bei Ustinowa beginnen. Olga Solotowa wurde meine
Lehrerin. Bei ihr lernte ich den Tanzstil von Ustinowa kennen und lernte Teile
von Choreografien, die Ustinowa seit dem Beginn ihrer Karriere als Choreografin
gemacht hatte.

Der Tanzunterricht begann nicht wie beim Ballett, Charaktertanz oder in der
Mojsejev Schule an der Stange, sonder mit ‚Chodi‘ (Gehen) im Raum. Die
Aufwärmphase mit Chodi bestand aus langsam aufbauenden Schritten. Nach den
Gehschritten folgten Dreierschritte und Anstellschritte. Danach kamen
komplexere Schritte und Bewegungen an die Reihe. Der Unterricht begann immer um
drei Uhr nachmittags. Davor probte im Studio die Tanzgruppe des Ensembles,
manchmal zusammen mit dem Chor und dem Orchester. Die Proben leitete Ustinowa
meistens selbst. Wenn gemeinsame Proben mit Chor und Orchester stattfanden, saß
ich mit Gänsehaut und manchmal mit zugeschnürter Kehle am Rand und schaute zu.
Es sprach mich sehr an, wie Ustinowa die Proben leitete. Bei Berjoska durfte
ich auch gelegentlich bei Proben zuschauen, die Mira Kolzowa leitete. Sie war
früher Solistin bei Berjoska und wurde nach dem Tod von Nadjeschdina 1979
künstlerische Leiterin des Ensembles. Die Korrekturen wurden von ihr während
der Proben ins Mikrofon gebrüllt und ihr Ton war wie der eines Generals beim
Militär. Ustinowa benutzte kein Mikrofon. Während der Proben saß sie auf ihrem
Stuhl, verfolgte alles mit aufmerksamen Blicken und flüsterte gelegentlich
ihrer Assistentin etwas zu. Wenn der Tanz vorbei war, stand sie von ihrem Stuhl
auf, ging auf die betreffenden TänzerInnen zu und machte entsprechende
Korrekturen. Dabei war ihr Ton immer sanft und freundlich.

 

Russische traditionelle Folklore und die Ethnomusikologen

 In derselben Weiterbildungsperiode lernte ich auch Wjatscheslaw (Slawa)
Schurov kennen, einen Professor der Ethnomusikologie an der Russischen Akademie
in Moskau. Er brachte mich in Kontakt mit anderen Ethnomusikologen, welche die
traditionellen Tänze der verschiedenen Regionen von Russland kannten. Ich
wusste damals schon, dass es für bestimmte Berufsgruppen in der Sowjet-Union
nicht einfach war. Das galt u. a. auch für die Ethnomusikologen. Man darf nicht
vergessen, dass in jenen Jahren dem Studieren, Ausüben und Propagieren von
traditioneller Folklore durch die kommunistische Partei entgegengewirkt wurde.
Mit der Ausübung von Religion war es ebenso. Schurov erwies sich als großer
Kenner nicht nur der russischen Folklore, sondern auch der der ethnischen
Minderheitsgruppen wie Udmurten, Mordwininnen, Tataren etc. in Russland. Er
erzählte manchmal wie schwierig es war, seine Arbeit aus zu üben, da von der
Partei ständig quergetrieben wurde. Der Druck seines Buches über seine
Feldforschungsuntersuchungen im Bjelgorod-Gebiet wurde mehr als zehn Jahre
hinausgeschoben, bis es dann letztendlich in einer Auflage von lediglich
1100 Exemplaren erschien. Auch die Verteilung wurde von der Partei so
geregelt, dass im Prinzip niemand an dieses Buch heran kommen konnte. Traditionelle
Folklore ist regional gebunden, doch die kommunistischen politischen Leiter
hatten lediglich Interesse an nationaler Folklore. Von den Ethnomusikologen
lernte ich, dass so etwas wie nationale Folklore überhaupt nicht existiert und
nur eine Erfindung von Choreografen ist, die mit traditioneller Folklore rein
gar nichts zu tun hat. Schurov sprach auch ohne Zurückhaltung über diesen
Widerstand der Partei. Sein Urteil über die vielen professionellen Volkschöre,
die in Russland reichlich vertreten waren, war vernichtend. Das betraf auch den
Pjatnitski Volkschor. Es war bekannt, dass all diese Volkschöre viele
vorgeschriebene Lieder in ihrem Repertoire hatten, die als Propaganda
bezeichnet werden können, so wie pompöse Loblieder auf die Größe und Schönheit
der Sowjet-Union, auf die Partei, ihre Helden und Führer. Aber am liebsten hörte
ich nur die Volkslieder und die komponierten Lieder im Volksstil, die ich im Allgemeinen
sehr schön fand. Ich habe auch andere Volkschöre von Russland gesehen, doch für
die Tänze mancher Choreografen, die ich in diesen Vorstellungen sah, konnte ich
nur wenig Anerkennung aufbringen. Es waren manchmal ziemlich geschmacklose
Produkte die den Anschein erweckten, als seien sie nur gemacht, um der
Parteiführung zu behagen.

Diese Periode meiner Weiterbildung wurde eine Konfrontation mit Aspekten
des russischen Volkstanzes, die mich manchmal doch ziemlich verwirrte. Ich war
ein großer Fan vom Pjatnitski Volkschor und verpasste keine Gelegenheit, einer
Vorstellung beizuwohnen. Ich hatte gelernt, dass Ustinowa genau wie die
Ethnomusikologen Feldforschung betrieben hatte und auf diesem Material
basierten ihre Choreografien. Dass Ethnomusikologen die Choreografien von
Mojsejev als verwerfliche Sowjetpropaganda betrachteten, konnte ich
akzeptieren, aber Ustinowas Arbeit war doch anders. Dass Schurov und andere
Ethnologen und Folkloristen die ich kennengelernt hatte, etwas total ablehnten,
das ich als wertvoll und schön empfand, konnte ich damals noch nicht so gut
begreifen und anerkennen. Der Unterschied zwischen ‚völlig falsch‘ und ‚ein bisschen
falsch‘ existierte bei dieser Berufsgruppe in den Sowjetjahren nicht.

Im Augenblick, da ich dies alles schreibe, ist der Zusammenbruch der
Sowjet-Union bereits seit mehr als zwanzig Jahren Geschichte und die Situation
in Moskau hat sich verändert. Slawa Schurov wird nun von der Direktion des
Pjatnitski Volkschor sehr geschätzt. Anlässlich seines fünfundsechzigsten
Geburtstags im Jahre 2007 hat der Pjatnitski Volkschor ihn als wichtigsten
Wissenschaftler und Kenner der russischen folkloristischen Gesangtradition mit
großem Aufwand im Tschaikowskisaal in Moskau geehrt. Er gab Kurse bei den
SängerInnen des Chors, trat mit ihnen bei Vorstellungen in Moskau auf und ging
als Gast mit dem Ensemble auf Tournee nach Korea.

Der wichtigste Ethnomusikologe und Forscher von Tanztraditionen der
verschiedenen Gebiete von Russland, Aleksej Schilin, wurde gefragt
Choreografien für den Pjatnitski Volkschor zu machen. Auch das choreografische
Material aus der allerersten Choreografie von Tatjana Ustinowa von 1939,
‚Kalininskaja Kadril‘, wurde wieder ins Repertoire aufgenommen.

Über die Entwicklungen bei Berjoska kann ich mich kurz fassen. Die
Choreografien von Nadjeschdina gehören noch immer zum Repertoire, aber die Ausführungen
haben nicht mehr das Niveau von damals. Die Choreografien von Mira Kolzowa, der
heutigen Choreografin, knüpfen mehr oder weniger an die alten Werke an, sind aber
von bedeutend niedrigerem Niveau als die von Nadjeschdina.

 Das Tanzensemble Igor Mojsejev ist immer noch beliebt. Aber im Gegensatz
zum Pjatnitski Volkschor sieht der Zuschauer in heutigen Vorstellungen noch
immer das, was Mojsejevs Arbeit charakterisiert. Das sind das verblüffend hohe
technische Niveau der TänzerInnen, die äußerst gleichmäßige Ensemblearbeit,
massale Tänze in Uniformen der russischen Armee-Einheiten – kurz gesagt eine
altmodische Show, die die Erinnerung an frühere Zeiten lebendig hält: Die
Visitenkarte der Sowjet-Union.

© Hennie Konings

Fortsetzung im Teil 2

Übersetzung: Doris Saisch