Eine kritische Betrachtung der Rolle des Volkstanzes in der westlichen Gesellschaft heute

Tanzen ist Bewegung des menschliches Körpers. Aber nicht jede Bewegung ist Tanz. Ohne das zu streng zu definieren und zu unterscheiden, können wir sagen, dass beim Tanz die Bewegung selbst das Ziel ist, weil es beim nicht-tänzerischen Bewegen fast immer ein anderes, außerhalb der Bewegung liegendes Ziel gibt, z.B. Sport, Arbeit, Pflege, Essen, u.s.w. Natürlich tanzen die Menschen oft auch mit einem besonderen Ziel, ich werde das die Funktion oder Rolle von Tanzen nennen.

Was ist nun die Rolle von Tanzen? Dafür unterscheide ich Volkstanz[1] (natürlicher Tanz, Folkloretanz, authentischer Tanz, ursprünglicher Tanz), wie es in einer sozialen Gemeinschaft stattfindet, von Kunsttanz (erstellter, hergestellter, erfundener Tanz), wie für die Bühne ausgeführt. Dieser Unterschied ist nicht ganz eindeutig, weil Volkstanz wird auch auf der Bühne ausgeführt und ist auch in gewisser Weise entstanden oder ‚erstellt‘.

Curt Sachs präsentiert in seinem Buch ‚Eine Weltgeschichte des Tanzes‘ (World History of the Dance) aus 1937 eine sehr interessante Theorie über Tanz. Aber weil er ein Musikwissenschaftler ist, sieht er jeden Tanz hauptsächlich als Kunst, auch den Volkstanz. Er nennt Tanz die ‚Mutter aller Künste‘, und er sagt: „Tanz ist im Grunde eigentlich das Leben aber auf einem höheren Niveau“. Für mich ist Tanz nicht so abgehoben, für mich steht Tanz dem Menschen sehr nahe.

 

Bühne und Gemeinschaft

Die primäre Rolle von Kunsttanz ist die Ausführung auf der Bühne vor Publikum, wobei das Publikum – emotional – bewegt wird, oder wenigstens die eine oder die andere Reaktion erfährt. Es gibt also einen Unterschied zwischen den Aktiven (Tänzer) und den Passiven (Publikum). Was die Tänzer auf der Bühne machen, ist Kunst, ist etwas wofür man Jahre üben muss, ist eine sehr außergewöhnliche Aktivität. Die Tänzer haben ein besonderes Talent, das durchschnittliche Personen nicht haben. Es kommt nicht in Frage dass die Leute aus dem Publikum mit den Profis oder den Berufstänzern mitmachen. „Don’t try this at home!“

Beim Volkstanz ist es ganz anders. Die primäre Rolle von Volkstanz ist eine soziale Rolle: Tanz hat eine Funktion in der Gemeinschaft. Durch Tanzen sieht man wer zur Gemeinschaft gehört und wer Außenseiter ist. Durch Tanzen wird deutlich was die Position von Mitgliedern in der Gemeinschaft ist. Tanz bindet Menschen zusammen. Tanz gibt Gelegenheit zu feiern, zusammen zu sein, zu reden (und zu bereden).

Manchmal hat Tanz auch symbolische, rituelle oder heilsame Bedeutung für individuelle Mitglieder der Gemeinschaft oder für die Gemeinschaft als Ganzes.

Volkstanz ist primär nicht zum Beobachten gedacht. Natürlich gibt es während der Ausführung eines Tanzes während einer Hochzeit, eines Festes oder rituellen Gebrauchs in einer Dorfgemeinschaft auch Leute, die an der Seite stehen und die tanzende Menge beobachten, aber normalerweise haben sogar diese Leute eine Rolle in der ganzen Tanzveranstaltung. Sie sind nicht ‚nur‘ Publikum. Sie schauen sich z.B. an welches Mädchen gut geeignet wäre für dein eigenen Sohn, oder wie schön (oder schrecklich) oder kräftig der Eine oder die Andere tanzt und damit seine/ ihre Persönlichkeit zeigt.

Nein, Volkstanz soll man mitmachen! Deswegen ist Volkstanz überwiegend einfach. Das heißt: einfach für die Mitglieder der eigene Gemeinschaft die sich über die Jahre an die Tanzbewegungen gewöhnt haben. Für die Besucher von weit her können sich die lokalen Tanzbewegungen sehr schwierig anschauen, aber das zeigt nur die kulturelle Vielfalt der über die Länder verbreiteten Volksgruppen.

Tanz ist Bewegung des Körpers. Für die Gesundheit sollen Menschen sich bewegen. Also trägt Tanz auch dazu bei, dass die Leute sich bewegen und gesund bleiben (das heißt: wenn sie sich nicht die Beine brechen bei einem gescheiterten Sprung). Aber das ist fast nie der wichtigste Grund des Tanzens. Ich denke, dass eigentlich niemand, der in der eigenen Gemeinschaft mittanzt, überhaupt daran denkt, dass er sich bewegt, weil das gut für seine Gesundheit ist. Dies heißt nicht, dass nichts Körperliches passiert während des Tanzens. Natürlich hat man – meistens – auch ein gutes körperliches Gefühl beim Tanzen. Körper und Geist sind eng miteinander verbunden während des Tanzes. Das ist, denke ich, ein universelles Gefühl. Das Schöne von Volkstanz ist, dass die Verbindung von Körper und Geist sowohl für die Individuen gilt als auch für die Gruppe (Verbindung zwischen Individuen).

 

Tanz im Dorf

In nicht-urbanisierten Ländern oder Gemeinschaften ist Volkstanz ein wesentlicher Teil vom Dorfleben. Kinder lernen die Tänze durch ‚einfach mitmachen’ mit den Eltern. Ihr Platz beim Tanzen entwickelt sich entsprechend ihrem Alter. Bewegungen, Schritte, u.s.w. sind typisch für das Dorf, für die Gegend oder für die breitere Region, aber man sieht eine große geografische Verschiedenheit in Stilen und Formen.

Diese Art von Volkstanz ist nie statisch oder invariant. Folklore ist immer lebendig, im Sinne von je nachdem die Gemeinschaft oder das Gebiet sich sozial, wirtschaftlich, politisch, und kulturell entwickelt, ändert sich auch die Folklore. Auch ist es so, das Folklore ‚mündlich‘ weitergegeben, überliefert wird und dass in diesem Prozess durch kleine, unmerkliche Änderungen an jedem Glied in der Kette nach einiger Zeit große Änderungen merkbar werden (so wie Evolution wirkt).

In ganz Europa hat sich dieser Prozess über Jahrhunderte fortgesetzt. Aber seit die von den westlichen Ländern ausgehende Industrialisierung und damit Urbanisierung vorangeschritten ist, änderte sich das Leben im Dorf gründlich. Die soziale, symbolische und rituelle Funktion des Tanzes wurde immer unbedeutender. In einigen Ländern ist der Volkstanz in seiner ursprünglichen Form sogar fast verschwunden.

Am Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte man in vielen Ländern die Dorffolklore als Träger der Volkskunst. Aber in West-Europa gab es nicht mehr so viele lebendige Tänze. Einige wurden aufgeschrieben. In ländlichen, abgelegenen Gebieten gab es noch einige Beispiele von lebendiger Folklore und Volkstanz aber der Reichtum davon war stark reduziert.

Statt der Dorfvolkstänze tanzten die Städter im Ballsaal. Und dort tanzte man nicht die eigenen Volkstänze, sondern importierte, populäre, ausländische und viel interessantere Tänze. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich daraus die internationalen Volkstanzgruppen zur Freizeitgestaltung entwickelt. Manchmal hatte die Gruppenleiter dabei auch ein sportliches Ziel: Bewegung für die Gesundheit, und kulturelle Entwicklung dazu.

 

Ost-Europa

Bis zur Einführung des kommunistischen Systems in Ost-Europa war die Folkloreentwicklung dort ungefähr gleich wie im Westen, obwohl die nationale und gesellschaftliche Entwicklung langsamer verlief. Deswegen gab es noch viel mehr lebendige Folklore. Unter der Führung der kommunistischen Partei der Sowjetunion entstand in diesen östlichen Ländern eine neue Art von Volkstanz. Die Partei entwickelte diese Form aktiv und die damit verbundenen Ziele waren, dass die Folklore nicht in Opposition zur Lehre der Partei stand, dass die Folklore unterschiedlich war von jener des Nachbarlandes, dass die Folklore die soziale Politik der Partei unterstützte und, vielleicht das wichtigste, dass die Folklore die Leute nicht zum Rebellieren gegen die Partei anstiftete.

Die kommunistische Partei drängte die regionale, traditionelle Folklore in den Hintergrund und ersetzte sie mit neu erstellter nationaler Folklore, die dem Stolz der Nation diente. Alle Kulturpolitiker der Warschau-Paktländer sollten diesem Modell unbedingt folgen. Auch die Nazis haben damals den eigenen Volkstanz propagiert mit dem Stolz der Nation im Auge, so dass nach dem Krieg viele Deutsche und Österreicher ‚Volkstanz‘ als negativ erlebten.

Auch Volkstanz wurde also standardisiert, stilisiert, ‚aufgeputzt‘, ja sogar ‚westernisiert‘, aber immer lag der Fokus in der Ausführung auf dem Eigenen. So erstellte die Partei eine neue Art von Volkstanz: Nationaltanz. Dieser Nationaltanz wurde auf der Bühne ausgeführt, durch berufsmäßige Tänzer. Dieser Tanz war schön und schwierig, man brauchte Jahre von Übung - also, eine Art von Kunsttanz. In den Dörfern, und eigentlich auch in den Städten, bei Hochzeiten oder anderen Festen, tanzte man immer noch unverändert das, was vorher schon getanzt wurde.

Der künstliche Nationaltanz wurde auch exportiert. Durch Theatergruppen aber auch durch Choreographen und Tanzleiter, die im Westen den im Freizeitbereich angesiedelten Internationale-Volkstanzgruppen ihre Tänze zeigten. Dabei sollten sie sagen (nicht freiwillig), dass diese Tänze die Volkstänze ihrer Heimat wären. Und wir, im Westen, konnten nicht anders als zu glauben dass sie die Wahrheit sprachen. Leider war das nicht so. Sie zeigten uns die Nationaltänze, auf Geheiß der kommunistischen Partei.

 

Freizeit Volkstanz

Aber für uns waren diese Tänze schön, exotisch, interessant, neu, anders. So liebten wir die Tänze, haben sie weitergegeben, und haben dabei immer gesagt, dass es originale Volkstänze wären. Dass es Kunsttänze waren, war kein Problem. Eigentlich haben wir das nicht gewusst. Erst nach dem Fall des kommunistischen Systems in Ost-Europa hatten wir die richtige Information bekommen.

Aber bis dahin gab es schon viele Liebhaber dieser Tänze. Und die große Menge Leute, die so viel Spaß mit Volkstanzen haben – das ist doch eigentlich sehr schön!? Für uns, in unserer Turnhalle oder Gemeindezentrumsaal ist es doch egal ob es richtiger Volkstanz ist oder Kunsttanz? Dazu kommt, dass die Mehrheit der Volkstänzer im Westen primär tanzte um sich zu bewegen und sekundär aus Interesse an der Kultur. Es war nicht so sehr die ursprüngliche Bedeutung im Herkunftsland sondern das eigene, körperliche und soziale Gefühl, das wichtig war.

Für uns waren die Tänze nicht einfach. Das macht Sinn weil die Schritte und Bewegungen nicht unserer Kultur zugehören. Trotzdem hörte man manchmal sagen, dass „Volkstanzen jeder machen kann, weil es ist einfach, weil es ist Volkstanz….“ Aber diejenigen, die das sagten, hatten vergessen, dass sie schon mehrere Jahre wöchentlich übten und unterrichtet wurden durch Spezialisten und ausländische Tanzleiter.

Sollen wir also damit aufhören? Natürlich nicht! Internationaler Volkstanz ist immer noch ein guter Weg um andere Kulturen kennen zu lernen. Und es ist gesund. Und es ist sozial. Es ist nicht unser Ziel, den ursprünglichen Volkstanz aus den anderen Ländern zu kopieren. Wir haben unsere eigene Art entwickelt. Aber es wäre sinnvoll, wenigstens ab und zu sich zu erinnern wo die Tänze her sind… Viel Spaß mit den Tänzen aus Ost-Europa, ja sogar mit den ‚Nationaltänzen‘. Aber ich möchte gern auch mal die richtigen Volkstänze ausprobieren. Die Tänze, die wirklich aus dem Herzen der Menschen entsprungen sind. Ich wünsche uns allen, dass wir dann mit den gleichen guten Gefühlen, körperlich und geistig, zusammen tanzen können!

Radboud Koop

 

[1] Ich werde hier das Wort ‘Volkstanz‘ verwenden, obwohl ich mir bewusst bin, dass dieses Wort in einigen deutschsprachigen Ländern auch negative Konnotationen hat, die ich hier aber nicht im Blick habe. Volkstanz wird hier verwendet wie ,folk dance‘ auf Englisch.

Fotoquelle: State Library and Archives of Florida: The Cross Creek Cloggers: White Springs, Florida www.flickr.com/commons

 

 

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