Den folgenden Artikel habe ich vor zehn Jahren geschrieben – er ist zeitlos gültig. Und heute vielleicht umso eindrücklicher, da wir uns in den von Corona geprägten Jahren die Hände zeitweise gar nicht mehr gereicht, uns im Tanz nur noch virtuell oder über Tücher verbunden haben - das Desinfektionsmittel immer zur Hand, als brächte Berührung Unheil.
Wie heilsam ist es, den Kontakt von Hand zu Hand jetzt wieder zu spüren, wie Not-wendig, auch global gesehen, in diesen Kriegs- und Krisenzeiten einander die Hände zu reichen.

 

Haendekreis

Nicht müde werden
sondern dem Wunder leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
(Hilde Domin)*

 

 

 

 

 

Das Herz in der Hand

Bewegung, die berührt – Berührung, die bewegt.

Diese Worte sind über die Jahre zum Leitmotiv meiner Arbeit geworden. Sie umfassen meine Tanzarbeit und die Arbeit in meiner Shiatsupraxis - beide mit möglicher heilsamer Wirkung.

Hände im Kreistanz. Ein Buch könnte geschrieben werden über die Aufgaben der Führungshand der Tanzleiterin, über die Tanzsprache der Hände und ihr Spiel im lyrischen Tanz, über verschiedene Handfassungen und ihre energetische Wirkung, über Berühren, Spüren, Verbundenheit, Vertrauen, Anspannung, Abgrenzung und all die anderen Botschaften, die wir über die Begegnung unserer Hände vermitteln.

Vor Jahren war ich eingeladen, in der ‚Nacht der Kirchen’ vor Mitternacht in der Dunkelheit einer Kasseler Kirche zu tanzen. Die vorderen Bänke waren weggeräumt und erstaunlich viele Menschen strömten zu später Stunde in die sonst eher spärlich besuchte Kirche. Neugierig und unsicher, was sie erwartet, fassten sie sich vorsichtig bei den Händen.

Dann das Tanzen und gemeinsame Singen im kerzenbeleuchteten Raum, dichter werdende Energie, Staunen. Schnell merkte ich, dass nur einfachste Schritte möglich waren. Gehen und Wiegen. Ich begriff, dass es nicht selbstverständlich ist, Schritt für Schritt die Balance zu finden. Ich sah ältere Menschen, die mühsam ihr Gleichgewicht und Halt bei den NachbarInnen suchten. Tastende Schritte wie die von Kindern, und Hände, die Verbundenheit und Zugehörigkeit fanden. Zum Abschluss brachten wir mit einem PilgerInnenschritt und Kerzen in den Händen das Licht zur Kirchenpforte und zu den Menschen, die ergriffen in den Bänken saßen.

In der vordersten Reihe hielt die Pfarrerin ihr schlafendes Kind in den Armen. Sonst eher skeptisch gegenüber meiner schwer einzuordnenden Arbeit, sagte sie einfach nur ‚das war ja unglaublich dicht’. Ältere Menschen kamen, die sich sehr bewegt und berührt bedankten, so etwas hatten sie noch nie erlebt, könnte es nicht öfter oder gar regelmäßig solche Tänze in der Kirche geben?

Lange dachte ich über diesen besonderen Abend nach, über die Einfachheit der Schritte und die große Wirkung. Wie viele alleinlebende - junge wie alte - Menschen waren wohl in diesem Kreis? Wann hatte jemand sie das letzte Mal berührt, ihnen eine Hand gegeben? War es beim Arztbesuch vor Wochen oder Monaten oder zum Abschluss eines Gottesdienstes? Beim Einkaufen und auf der Arbeit eher nicht.

Ich verstand etwas vom Wunder des Tanzkreises, das denen, die schon lange tanzen, so selbstverständlich ist, dass wir diesen besonderen Moment kaum noch wahrnehmen, diesen mindestens-einen-ganzen-Tanz-lang-andauernden-Moment, der im Alltag nur noch äußerst selten vorkommt: Wir reichen uns die Hände – Berührung, die bewegt, und beginnen zu tanzen – Bewegung, die berührt.

Durch den ‚aufrechten Gang der Menschenfrau’ (anthropologischer Buchtitel von Gerda Weiler) ist die Fähigkeit entstanden, zu tanzen und unsere nunmehr freien Hände zu Vielerlei zu gebrauchen. Das macht unser Menschsein aus und stellt uns in eine besondere Verantwortung füreinander und für die ganze Schöpfung.

Seit einigen Monaten bin ich Großtante und erlebe Mutter und Tochter wie sie einander berühren, ein ganzes Leben vertrauensvoll in eine große Hand gelegt. Ich spüre diese kleinen greifenden Hände und weiß, dass wir mit dem Kreistanz ganz am Anfang des Lebens anknüpfen, dort wo Menschsein beginnt, wo wir durch Kontakt und Berührung Begreifende, Handelnde und Zugehörige werden.

Die chinesische Medizin kennt fünf Herzen, eins in der Brust, zwei in den Fußsohlen und zwei in den Händen. Ob wir es wissen und wollen oder nicht:

Wir tanzen mit dem Herzen in der Hand – verbunden von Herz zu Herz.

Birgit Wehnert  (Neue Kreise Ziehen 1-2013)

Zwei_Haende

 

Diese Hand bedeutet Dir standzuhalten
und an Deine eigenen Hände zu denken

(Songs for Srebrenica, Vrouwfolk)

 

 

* Hilde Domin: Sämtliche Gedichte, Fischer Verlag 2009
Bildnachweis: Foto mit Tüchern: Katharina Schulz
Bildrecht Hände: Birgit Wehnert,