Internationaler Volkstanz - wohin?
Wiedergeburt oder Sterbebegleitung für die Tanzfolklore

Wozu praktizieren wir internationale Volkstänze?

Wenn jemand zu einem Lehrgang in internationalem Volkstanz geht, muss man annehmen, dass von einem Interesse an gewissen ausländischen Tanztraditionen die Rede ist. Oder ist es völlig egal was man tanzt und geht es etwa nur um das 'sich gemeinsam im Kreis freibleibend bewegen', egal zu welcher Musik? Man kann sich auch fragen, warum gerade Volkstänze aus anderen Ländern und nicht die aus dem eigenen Land? Volkstänze, die von weit kommen, sind vielleicht interessanter, schöner, dynamischer und die eigenen Volkstänze sind doch einfach altmodisch und langweilig! 

Im Theater oder Fernsehprogramm kann man schon seit vielen Jahren Volkstanz-Ensembles aus vielen Länden sehen, wo hübsche junge Tänzerinnen und Tänzer in schönen farbenfrohen Trachten eine wirbelnde Show aufführen. Solche Theater-Produkte sind immer als Volkstanz, Folklore oder folkloristische Show angeboten worden. Aber Volkstanz, so wie man es auf einem Dorfplatz sehen kann, ist doch wesentlich anders als solche theatralische, folkloristische Darbietungen.

Wenn von Volkstanz die Rede ist, muss man annehmen, dass er nicht all zu schwierig sein kann. Sind es doch Tänze, die das einfache Volk tanzt. Für Interessierte werden überall Seminare mit internationalem Volkstanz angeboten und es gibt Lehrende, die solche Seminare leiten. Anfänglich waren es bei uns die ausländischen LehrerInnen, die die eigene Tanzkultur vertraten. Meistens waren es die ehemaligen beruflichen TänzerInnen, die in den staatlichen Ensembles der Länder des ehemaligen Ostblocks getanzt haben. Einige solcher LehrerInnen haben vielen Jahre die VolkstänzerInnen in westeuropäischen Ländern inspirieren und begeistern können. Aber es gibt mittlerweile auch viele einheimische VolkstanzlehrerInnen, die Volkstänze aus allen Ländern unterrichten.

Volkstanz und Ballett
Die Volkstanzwelt war früher in unseren westeuropäischen Ländern für die professionelle Welt von Ballett und Theatertanz nicht interessant. In Ballettschulen waren es oft die ehemaligen professionellen BallettänzerInnen oder Leute mit Tanzfachausbildung, die klassisches Ballett und moderne Tanzarten unterrichteten. Volkstanzunterricht kam in Ballettschulen üblicherweise nicht vor.

Mit der ersten Stangenübung im Ballettstudio fängt es schon an: Balletttraining ist ausgesprochen auf Leistung ausgerichtet. Die körperliche Voraussetzung sowie eine gewisse Gelenkigkeit sind für Ballett auch wichtig. In der Volkstanzwelt war die übliche Tanzfläche nicht eine Ballettstudio sondern die Wiese oder Räumlichkeiten in Jugendclubs und Gemeindehäusern. In der Volkstanzwelt ist es auch nicht wichtig ob der Körper die gleichen Voraussetzungen hat wie beim Ballett. Volkstanz ist für alle da - ob jung oder alt, groß, klein, schlank, aber sogar auch für Personen mit Übergewicht oder körperlichen Einschränkungen. Von Anfang an waren es keine professionellen TanzlehrerInnen, die Volkstanz unterrichteten. Oft waren es Leute, die beruflich im sozialpädagogischen Bereich tätig waren. Volkstanz war in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg in vielen Ländern auch oft verbunden mit politisch/sozialen Idealen. In den U.S.A wurde Volkstanz in dieser Zeit untergebracht bei Bewegung und Sport. Diese Richtung diente in den Niederlanden für einige Leute auch als Vorbild. Deswegen war und ist Volkstanz in vielen Ländern nicht bei Tanzausbildung/Unterricht zu finden  sondern beim Sport.

Hauptsächlich waren es bei uns in den Vorkriegsjahren die Volkstänze aus verschiedenen Regionen der Niederlande, die getanzt wurden. In den Nachkriegsjahren waren dann auch schon Volkstänze aus den Nachbarländern bekannt. Und dann kamen die israelischen Tänze. Der Staat Israel war neu gegründet und israelische Tänze waren die neu kreierten Produkte, die außer Schwung und Dynamik auch eine propagandistische Funktion hatten. Die Tänze und auch die Musik kamen bei uns gut an. Als kurz danach die ersten staatlichen Volkstanz-Ensembles aus einigen Ostblockländern auf unseren Bühnen zu sehen waren, erweiterte sich für viele der tänzerische Horizont noch mehr. Der eigene Folklore-Tanz wurde von vielen gesehen als altmodisch und langweilig, hingegen wirkten solche schöne und dynamische Tänze wie die aus Israel und den kommunistischen Ländern attraktiv. Solche Tänze wollte man hier auch lernen. Die professionellen staatliche Ensembles, vor allem aus der ehemaligen Sowjet Union, haben ab etwa 1955 in unseren westeuropäischen Ländern Bühnenvorführungen gezeigt, die auch die Leute mit professionellem Tanzfachhintergrund beeindruckt haben. Aus der Volkstanzwelt kam die Reaktion, dass man solche Darbietungen nicht als Volkstanz bezeichnen könne sondern eher als Ballett oder Charaktertanz.

Was ist Charaktertanz?
Charaktertanz ist eine spezielle Unterart des klassischen, akademischen Balletts, die auf den Volkstänzen verschiedener Völker beziehungsweise Nationen beruht. Diese Volkstänze wurden stilisiert und in die klassischen Handlungsballette eingefügt. Der Ausdruck „Charakter“ hängt mit dem Fach der Darsteller beziehungsweise ihrer Bewegungsart zusammen und ist noch im 19. Jahrhundert als gröberer Gegensatz zum Verhalten der „feinen“ adeligen Figuren oder Sylphiden, Willis und anderer ätherischer Märchenwesen zu verstehen.

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit, wo der Mensch aus der Realität flüchten wollte und im Theater gerne in eine Märchenwelt eintauchte. In vielen Balletten wie Schwanensee, Giselle, Nussknacker, Dornröschen usw. kommt Charaktertanz vor wie z.B. ein Csárdás, Tarantella, Arabischer oder Chinesischer Tanz. Ob solche Tänze eine verantwortbare Wiedergabe waren von einer gewissen ethnischen Tanztradition, war für Choreograph und Publikum unwichtig. Es diente nur als eine exotische und attraktive Einlage in einem Gesamtprodukt.

Wie unterscheidet sich Volkstanz von Nationalem Tanz und Charaktertanz?
Der Tanz, den die staatlichen Ensembles aus dem ehemaligen Ostblock zeigten, war ein neues Phänomen, nicht nur für das Publikum im Westen sondern auch für Menschen aus der Ballettwelt. Meistens waren auf unseren Bühnen ziemlich große staatliche Ensembles zu sehen, wo junge und dynamische Tänzer das Publikum begeistern konnten. Leistung und Perfektion waren zu erkennen und die Choreographien zeigten oft verblüffenden Einfallsreichtum und Theatralität. Oft wurde dieser Tanzstill von unseren Tanzfachleuten als Nationaltanz bezeichnet.

In unsere Trachtengruppen, die Volkstänze auf  Festen zeigten, waren die TänzerInnen meistens das Gegenteil von jung und dynamisch. Auch waren solche Vorführungen von Trachtengruppen nicht theatralisch bearbeitet. Außerdem waren es nie nationale Tänze sondern regionale.

Volkstanz war in den ehemaligen Ostblockländern unter der kommunistischen Verwaltung eine Staatsangelegenheit, weil er für propagandistische Zwecke sehr gut geeignet ist. Die professionellen staatlichen Ensembles, die als Volkstanz-Ensembles auf den Bühnen im Westen auftauchten, zeigten natürlich keine alten überlieferten Volkstänze. Diese eignen sich auch nicht um sie auf der Bühne einem großen Publikum vorzuführen. Zwischen Dorfplatz und Theater liegt ein Weg, der von Choreographen mit Tanzfachhintergrund gestaltet wird, so wie es beim Ballett auch üblich ist. So entstand -basierend auf traditionellen Tänzen- ein stilisierter Tanzstill, den man oft als nationalen Tanz oder Bühnenfolklore bezeichnet. Aber so wie bei Ballett, ist auch hier die Rede von einer theatralischen Kunstform. So wie beim Charaktertanz kann man auch hier sich fragen inwiefern diese theatralischen Darbietungen auf  folkloristische Tanztradition zurückgreifen. Oft sah man Choreographien, die man unter lustige Unterhaltung einordnen musste oder auch als nationalistische Propaganda in folkloristischem Kostüm.

Überlieferte folkloristische Tanztradition ist in erster Linie gemeint zum Mittanzen oder um sich aufgenommen zu wissen in einer sozialen Angelegenheit, die mit Tanz verbunden ist, so wie bei Dorffesten. Traditioneller Volkstanz hatte Jahrhunderte lang hauptsächlich die Funktion, die soziale Kohäsion der einheimischen Bewohner von Dorf, Region oder Kulturgebiet zu bestätigen und zu verstärken. Traditionelle Folklore kann darum auch nicht national sein, sondern nur regional. Nationaler Volkstanz, so wie wir es kennengelernt haben von den staatlichen Ensembles aus dem Ostblock, ist auch ein typisches Phänomen von Diktaturen und stark nationalistisch orientierten Regierungen. Interessant ist wohl, dass es in allen ehemaligen Ostblockländern gelungen ist, einen nationalen Tanzstil zu kreieren, der sich unterscheidet von denen der Nachbarländer. Traditionen aus Grenzgebieten sind an der eigenen Seite der Grenze fast gleich wie an der anderen, der ausländischen Seite. Eine Grenze bestimmt eine Nation, nicht eine folkloristische Tradition.

Tanz Fachausbildung
In den Niederlanden ist in 1931 die Rotterdamer Tanz-Akademie gegründet worden. Ab dann gab es eine staatlich anerkannte professionelle Ausbildung für Buhnentanz und Tanzpädagogik, in sowohl klassischem Ballett, zeitgenössischem Tanz und Tanzpädagogik. In 1970 war dazu eine Spezialisierungsrichtung im Bereich Tanzpädagogik gegründet worden: die Ausbildung für VolkstanzlehrerInnen. In dieser Zeit war internationaler Volkstanz sehr populär geworden und es gab eine große Nachfrage nach kompetenten TanzlehrerInnen. Das Unterrichtsprogramm für VolkstanzlehrerInnen der Rotterdamer Tanzakademie war inhaltlich gestaltet worden von einerseits einer Volkstanzleiterin mit viel Erfahrung in der Laien-Volkstanzbewegung, Femke van Doorn, die beruflich Gymnastiklehrerin war. Die zweite Person war Ivon Eschweiler, die nach ihrem Abschluss in Ballett an der Tanzakademie in Amsterdam, in 1963 im ehemaligen Jugoslawien eine Weiterbildung machte bei dem staatlichen Volkstanz Ensemble Kolo. Dort war sie sogar einige Zeit als Tänzerin engagiert. Ivon heiratete Ciga Despotovic, einen Tänzer bei Kolo und zog mit ihm nach Holland. Beide waren in den Niederlanden ab Mitte der sechziger Jahre von großer Bedeutung für die Entwicklung der niederländischen internationalen Laien-Volkstanzszene. 

Tanzfreude und Leistung
Ballett und Modern Dance sind Tanzarten, die insbesondere einem Produkt dienen, nämlich einer Bühnenvorführung und dadurch ausgesprochen auf Leistung ausgerichtet sind. Mit den Tänzen, so wie die staatlichen Ensembles aus den kommunistischen Ländern sie zeigten, verhält es sich genauso. Aber traditioneller Volkstanz ist nicht unbedingt gebunden an ein Produkt so wie eine Bühnenvorführung, sondern richtet sich eher auf das Tanzen für das eigene Vergnügen. Im Grunde ist Volkstanz auch nicht auf Leistung ausgerichtet. Volkstanz als Bühnen-Kunstform und Volkstanz als Freizeitbeschäftigung für Laien sind zwei sehr unterschiedliche Welten. Nach meiner Meinung haben die Personen, die damals das inhaltliche Unterrichtsprogramm für VolkstanzlehrerInnen an der Rotterdamer Tanzakademie gestaltet haben, diesen Aspekt nicht genug berücksichtigt. Wahrscheinlich weil eine nicht-leistungsorientierte Einstellung der Ballettkultur fremd ist. So wurde Volkstanz an der Basis mehr als eine Bühnen-Tanzkunstform gesehen.

Im Tanz-Fachangebot an einer Tanzakademie hätte Volkstanz nach meiner Meinung in eine andere Kategorie als alle anderen Tanzkunstformen eingeordnet werden sollen. Tanzfreude und Gemeinsamkeit erleben sollte das Hauptziel sein beim Volkstanzunterricht. Menschen aus dem sozialen Bereich wie Femke van Doorn oder vielleicht auch Ethno-MusikologInnen, die Tanztraditionen studiert haben, hätten wahrscheinlich andere Prioritäten gesetzt und dem Erleben von Tanzfreude und Gemeinsamkeit einen zentraleren Platz gegeben in der Ausbildung von VolkstanzlehrerInnen.

Wiedergeburt oder Sterbensbegleitung für den internationalen Volkstanz?
Inzwischen haben die Zeiten sich sehr verändert. Die Fachrichtung Volkstanzdozent gibt es an der Rotterdamer Tanzakademie schon viele Jahre nicht mehr. Der Volkstanz-Markt in den Niederlanden ist schon seit 25 Jahren rückläufig. Nachwuchs gibt es kaum und viele Tanzkreise bzw. Tanzhäuser gibt es in den Niederlanden schon lange nicht mehr.

Viele an der Rotterdamer Tanzakademie ausgebildete VolkstanzlehrerInnen haben sich damals bei der niederländischen professionellen Tanzkompanie “International Tanztheater„ beworben für einen Job als BühnentänzerIn. Aber diese Tanzkompanie wird seit 2013 nicht mehr staatlich subventioniert. Anfänglich hatte diese Tanzkompanie die staatlichen Ensembles aus den Ostblockländern als Vorbild. Choreographen aus Russland, Ungarn und anderen Ländern wurden oft eingeladen um die Vorstellungen zu gestalten.

Jetzt gibt es die Kompanie noch, aber sie ist in einer Veränderungsphase. Neue Richtungen werden versucht, TänzerInnen werden nur noch auf Projektbasis angenommen. Heute versucht die Kompanie zu überleben mit finanzieller Unterstützung von Sponsoren statt dem Subventionsgeld des Kulturministeriums, das weggefallen ist. Inzwischen sind viele von den Laien-Bühnenvorführungsgruppen, die es in den Niederlanden gab, schon aufgelöst. Für Volkstanzlehrer/Innen mit Tanzakademie-Ausbildung gibt es in den Niederlanden weniger und weniger Gruppen. Ist es realistisch auf eine Wiedergeburt für den internationalen Volkstanz zu hoffen? Oder ist Sterbebegleitung das einzige was uns bleibt? 

Seit einigen Jahren ist Tanztherapie eine neue Spezialisierungsrichtung an der Rotterdamer Tanzakademie. Für TanztherapeutInnen gibt es offensichtlich eine Zukunft. Aber nach meiner Meinung wirkt Volkstanz an sich schon ziemlich therapeutisch. Tanzfreude teilen und Gemeinsamkeit erleben tut den Menschen gut. Das hat sich Jahrhunderte lang bewiesen und es ist heute immer noch so. Und Begegnung mit Tanztraditionen von anderen Völkern kann dafür eine Bereicherung sein.

Warum internationaler Volkstanz als Freizeitbeschäftigung so lange populär war, liegt vielleicht auch am Phänomen Kreistanz. In den westeuropäischen Ländern ist der Kreistanz in der überlieferten Folklore fast überall verschwunden und lebt nur noch im Kindergarten. In Osteuropa hat der Kreistanz immer noch seinen Platz behalten. Für Kreistänze braucht man keinen Partner. Der Schritt, sich als Einzelperson für ein Volkstanzseminar anzumelden, ist darum einfacher. Man fühlt sich auch leicht aufgenommen im Kreis.

In den großen Fitness-Center, die es in jeder Stadt gibt, kann man unzählige Menschen sehen, die massenhaft auf Geräten trainieren. Sogar mit Kopfhörern, sodass man sich gut isolieren kann von all den Anderen. Für die Kondition und Figur ist es offensichtlich gut. Diese körperliche Freizeitbeschäftigung ist so kennzeichnend für die heutige Zeit in der Individualismus so prominent anwesend ist. Für die Seele ist es das zusammen Tanzen, das der Mensch eher braucht als die den Individualismus bestätigende Aktivitäten, denke ich.

Volkstanz wurde bei uns in den Niederlanden vor einigen Jahren auf Welttanz umgetauft in der Hoffnung auf ein neues Aufleben des internationalen Volkstanzes. Genauso wie sich auch Weltmusik als ein besser verkaufbares Produkt bewiesen hat als Volksmusik. Es werden jetzt überall neue Tänze kreiert, oft basierend auf  folkloristischen Tanztraditionen, aber manche Produkte sollte man eher als gutes Beispiel von Kreativität sehen denn als verantwortbare Wiedergabe einer folkloristischen Tanztradition.

Was aber auch wichtig bleibt, ist wie Tanzunterricht angeboten wird. Für das gemeinsame freibleibende Lieder singen beim Lagerfeuer braucht man keinen Musiklehrer. Um aber ein mehrstimmiges Lied aus eine anderen Kultur zu lernen, ist es sinnvoll, wenn man es von einem/ einer kompetenten MusiklehrerIn lernt. Für eine Tanztradition aus einer anderen Kultur gilt das genauso. Tanzfreude teilen mit Anderen, kann eine Bereicherung sein. Hingegen ist freibleibende Oberflächlichkeit teilen wie gemeinsam kulinarisch genießen bei McDonalds.

Begonnen habe ich mit der Frage: Wozu praktizieren wir internationalen Volkstanz?  Zum Schluss stelle ich auch noch die Frage: Wie lange werden wir es noch machen?

Hennie Konings, Rotterdam im September 2015