Der tanzende Mensch und der Tanz als darstellende Kunst - russische Volkstanztradition versus Bühnenfolklore
Zusammenfassung des online Vortrags vom 1. Februar 2022

Schiljin-1Manchmal tanzen Menschen nur zu ihrem eigenen Vergnügen. Aber er/sie kann auch optimale Freude am Tanz haben, wenn Zuschauer anwesend sind, die seine/ihre Tanzdarbietung beobachten. Das Tanzen auf dem Dorfplatz oder in einem Tanzsaal, wo die Leute am Rand sitzen und den Tanzenden zusehen, kann dem Tänzer bereits bewusst machen, dass er seine Tanzkünste zeigen muss. Aber das Tanzen vor einem Publikum, auf einer Bühne, ist natürlich die ideale Situation für einen Tänzer, um außergewöhnliche tänzerische Fähigkeiten zu zeigen, vor allem, wenn dies mit begeistertem Applaus belohnt wird. Auf der Bühne können sowohl Amateure als auch professionelle Tänzerinnen und Tänzer tanzen. Tanzunterricht kann gegeben werden, um die Freude am Tanzen für sich selbst oder gemeinsam mit anderen zu entdecken. Eine andere Situation ist, wenn die Tanzausbildung darauf abzielt, professionelle Tänzer auszubilden, die auf der Bühne vor Publikum tanzen.

Erste Tanzhochschule Europas

Die Académie royale de danse war die erste Tanzhochschule in Europa. Sie wurde 1661 auf Anordnung des französischen Königs Ludwig XIV. in Paris gegründet. An dieser ersten Tanzakademie wurden der Hoftanz und die Hofmusik professionalisiert. Die Ballette, die bei Hofe von den Höflingen aufgeführt wurden, erforderten ein gewisses tänzerisches Können. König Ludwig XIV. war bekanntlich ein guter Tänzer. In dem Hofballett "Ballet de la nuit" tanzte der König die Rolle des Apollo, des griechischen Gottes der Sonne und der schönen Künste. Dies brachte dem König den Spitznamen Sonnenkönig ein. Der französische König wollte nicht nur der autokratische Herrscher seines Volkes sein, sondern auch ein Künstler, der Rollen tanzt, die eines Königs würdig sind. Als Ludwig XIV. älter wurde und seine Tanzkünste nachließen, ergriff er die Initiative zur Gründung einer Tanzakademie. Dort unterrichteten Tanzmeister ausgewählte Höflinge, die in den Balletten des französischen Hofes auftraten.

Diese erste Tanzakademie leitete die Entwicklung dessen ein, was wir heute das akademische Ballett nennen. Aus dieser Welt des Balletts, das im 19. Jahrhundert seine Blütezeit als Aufführungskunst erlebte, ging der "danse de caractère" hervor. Auf  Deutsch wird diese Tanzform Charaktertanz genannt. Dieser Tanzstil ist Teil des romantischen, klassischen (akademischen) Balletts. In den großen romantischen Balletten des 19. Jahrhunderts, wie Schwanensee, Nussknacker usw., gibt es Tänze, die als ungarische, spanische oder russische Tänze aufgeführt werden. In der Geschichte werden diese Tänze dann von den Gästen, die aus diesen Ländern stammen sollen, für den Gastgeber am Hof getanzt. Obwohl sich diese Tänze auf den Volkstanz beziehen, haben sie kaum etwas mit dem traditionellen Volkstanz zu tun, weder als Tanzstil noch in den Kostümen. Den Choreographen und Kostümbildnern genügte eine sehr oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Original.

Volkstanz als eigene Kunstform

berjoska-2Aus der Welt des akademischen Balletts heraus entwickelte sich der Volkstanz im zwanzigsten Jahrhundert zu einer eigenen Kunstform. Die Sowjetunion spielte dabei eine wichtige Rolle. Der Choreograf Igor Moissejew (1906 - 2007) konnte mit Unterstützung der Machthaber im Kreml 1936 ein professionelles Volkstanzensemble gründen, das noch heute weltberühmt und als Moissejew-Ballett bekannt ist. Igor Moissejew schuf zahlreiche Ballette, die angeblich auf Volkstänzen basierten, aber oft mehr Ähnlichkeit mit den charakteristischen Tänzen des Balletts des neunzehnten Jahrhunderts hatten als mit dem traditionellen Volkstanz. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Länder des Ostblocks unter den politischen Einfluss der Sowjetunion gerieten, wurden in diesen Ländern professionelle Tanzensembles und Tanzakademien gegründet, die sich dem Volkstanz als Aufführungskunst widmeten. Was in der Sowjetunion geschaffen wurde, sollte als leuchtendes Beispiel für die anderen Länder des Ostblocks dienen. In all diesen Ländern brachte der Volkstanz als professionelle Aufführungskunst viele Tänzer hervor, die in solchen Ensembles tanzten. Später wurden diese Tänzer Lehrer oder Leiter von Amateurensembles.

Volkstanz als Exportartikel

Folklorefestival-SchiljinViele dieser Lehrer kamen in den 1960er Jahren auch in die westeuropäischen Länder, um Volkstänze anzubieten, die sie während ihrer Ausbildung oder als Tänzer in professionellen Tanzensembles gelernt hatten. So kamen die Teilnehmer von Volkstanzkursen in westlichen Ländern mit Tänzen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Bulgarien oder Rumänien in Berührung. Ob diese Tänze die Tanztradition der einfachen bäuerlichen Bevölkerung repräsentieren, war eine Frage, die damals niemandem in den Sinn kam. Diese Tänze waren für Amateurtänzer aus den westeuropäischen Ländern zugänglich, nicht zu schwierig und erfrischend im Vergleich zu ihren eigenen lokalen Volkstänzen. Diese wurden oft als altmodische und verstaubte Überbleibsel der bäuerlichen Bevölkerung früherer Jahre angesehen. Darüber hinaus wurde die Volksmusik aus den osteuropäischen Ländern als erfrischend empfunden, verglichen mit dem bäuerlichen "hoem-pa-pa" des eigenen Landes.

In dem Vortrag über den russischen Volkstanz, den Radboud und Hennie am 1. Februar 2022 halten werden, werden die Themen von der überlieferten Tanztradition bis hin zum Volkstanz als Aufführungskunst diskutiert und beleuchtet. 

Fotos:
1+3: Alexej Schiljin
2: Berjoska