In letzter Zeit bekam ich aus den USA und Österreich Anfragen zum Tanz Posijala baba. Sie können meine ausführliche Antwort unten lesen:

Die Vorgeschichte

Ab 1986 lebte ich in einer Übergangssituation. Nachdem ich 17 Jahre lang als Bühnentänzer gearbeitet hatte, musste ich mich auf eine neue Zukunft vorbereiten, und zwar als Tanzlehrer. Als Hobby habe ich mich seit meiner Jugend mit russischem und ukrainischem Tanz beschäftigt. 1987 erhielt ich ein Stipendium des niederländischen Kulturministeriums für ein Studium in Moskau. Ich studierte dort an der Tanzschule des Pjatinitski-Volkschors. Die Choreografin des Pjatnitski-Volkschors war zu dieser Zeit Tatjana Ustinowa (1908-1999). Ihre choreografische Arbeit basiert auf den Tanztraditionen verschiedener Regionen Russlands. In dieser Ausbildung lernte ich Bühnenadaptionen traditioneller Tänze, keine authentischen Folkloretänze. Durch meine Kontakte zu russischen Musikethnologen lernte ich auch die traditionellen Tänze Russlands kennen. Die traditionellen Tänze Russlands beruhen hauptsächlich auf Improvisation. Improvisation ist ein unbekanntes Phänomen in der Welt des Freizeitvolkstanzes. Die choreografischen Arbeiten, die auf traditionellen Tänzen beruhen, lieferten mir daher eine Basis an Schritt und Bewegungsmaterial. Diese bildeten die Grundlage für die Entwicklung eines russischen Tanzprogramms, das für die Teilnehmer des Freizeitvolkstanzes geeignet ist. Daran habe ich während und auch nach meinem Studium in Moskau intensiv gearbeitet.

Natürlich hoffte ich, dass ich als Lehrer für russischen Tanz meinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Aufgrund meiner Herkunft (russische Mutter und niederländischer Vater) habe ich mich hauptsächlich auf den russischen und nicht auf den ukrainischen Tanz konzentriert. Bei der Entwicklung meiner Tanzprogramme war es wichtig, eine Reihe von russischen Tänzen zu schaffen, die sich für den Freizeitvolkstanz eignen. Da ich mich bemühte, ein möglichst zugängliches Tanzprogramm für meine Seminare zu erstellen, war es wichtig, dass ein Tanz nicht zu schwierig war und die Musik besonders angenehm für das Ohr sein sollte. Meine russischen Tänze bestehen zum größten Teil aus choreografischem Material, das ich angepasst habe. Meine Moskauer Lehrerin Olga Zolotowa hat ebenfalls zu meinem Tanzprogramm beigetragen, ebenso wie mein Freund Aleksey Shilin, der ein wissenschaftlicher Tanzforscher für traditionelle Tänze Russlands ist. Die Tänze, die von ihm stammen, kann man als traditionelle Folkloretänze bezeichnen, weil sie aus seiner Feldforschung stammen. Aber auch dies ist nur eine Aufzeichnung eines bestimmten Tanzes aus einem bestimmten Dorf, wie er in einem bestimmten Jahr gesehen und aufgezeichnet wurde. Derselbe Tanz im selben Dorf kann eine oder mehrere Generationen später anders aussehen. Der traditionelle Tanz wird sich weiterentwickeln, oder aussterben. Dann ist der traditionelle Tanz vielleicht zu einem Museumsstück geworden, das nur noch in den Kulturinstituten oder Bühnentanzgruppen der Großstädte getanzt wird und nicht mehr in dem Dorf, aus dem er ursprünglich stammt.

Jetzt komme ich zu dem Tanz Posiyala baba.

In den 1980er Jahren sah ich in Moskau eine Amateur-Folkloretanzgruppe. In ihrem Programm gab es einen Tanz, der vom Tanzstil her nicht typisch russisch aussah, aber das Tanzlied wurde in russischer Sprache gesungen. Ein Freund von mir, ein Musikethnologe, hatte mich zu dieser Aufführung mitgenommen. Er erzählte mir, dass der betreffende Tanz Golimba heißt und aus der Tradition der Nekrasov-Kosaken stammt. Zu der Zeit, von der ich spreche, kannte ich die Geschichte der Nekrassow-Kosaken nicht. Der Tanz zeigte mir einige Ähnlichkeiten mit Tänzen aus dem Kaukasus und vielleicht sogar aus dem Balkan. Die Bewegungen und den Stil fand ich nicht sehr russisch, aber interessant.

Die Kosaken

Kosaken gehören keiner ethnischen, sondern einer kulturellen Gruppe an. Heutzutage gibt es russische - und ukrainische Kosaken, die sich in Tracht und Tanztradition sehr voneinander unterscheiden. Die Kuban-Kosaken wanderten im 18. Jahrhundert aus dem Heim-Gebiet in Zoporizhe in der Ukraine, in das Kuban-Gebiet in Russland ein. In der folkloristischen Tradition der russischen Kuban-Kosaken kommen daher noch viele ukrainische (Tanz-)Lieder vor. Das Lied Posiyala baba ist eines von ihnen. Die folkloristische Tradition der Kosaken ist vielfältig. Es gibt eine Kosakengruppe, die sich Nekrasov-Kosaken nennt. Diese Gruppe ist nach ihrem Ataman (Hauptmann) Ignat Nekrasov benannt. Diese Kosakengruppe wanderte im 18. Jahrhundert mit ihrem Hauptmann in das Osmanische Reich, die heutige Türkei, aus. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kehrten die Nachkommen dieser Nekrassov-Kosaken in die Sowjetunion zurück, um sich in ihrer früheren Heimat in der Nähe des Flusses Don niederzulassen, wo sie ursprünglich hergekommen waren. Für russische Musikethnologen war diese Gruppe damals ein sehr begehrtes Studienobjekt. 

Der Tanz Galimba, den ich vor etwa fünfunddreißig Jahren in Moskau gesehen habe, stammt von diesen Nekrasov-Kosaken. Was ich damals getan habe, bereue ich bis heute. Ich habe das ukrainischsprachige Lied Posijala baba der Kuban-Kosaken als Begleitung für Galimba, einen Tanz der Nekrasov-Kosaken, genommen. Ich habe das nur gemacht, weil ich die Orginalmusik nicht hatte und die Musik von Posiyala baba zum Tempo passte und auch schön war. Jetzt, wo ich auf diese Zeit zurückblicke, kann ich sie als Jugendsünde bezeichnen. Dass ich jemals einen Tanzstil einer bestimmten Kosakengruppe (Nekrassov-Kosaken) auf ein Tanzlied einer ganz anderen Kosakengruppe (Kuban-Kosaken) getanzt habe, bereue ich jetzt sehr. Nach 1990 nahm ich diesen Tanz nie wieder in meinen Unterricht auf, in der Hoffnung, dass meine Jugendsünde schnell vergessen sein würde.

Die Dinge haben sich anders entwickelt. Ich weiß nicht, wie sich der Tanz und die Musik im Laufe der Jahre verselbständigt haben und in anderen Ländern gelandet sind. Was ich sehe, ist, wie der Tanz Posiyala baba-  heutzutage auf You Tube auftaucht. Die charakteristischen Bewegungen des Tanzes sind da weggelassen, so wie ich auf You Tube sehen kann. Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich peinlich. Was von meinem ursprünglichen Tanz übrig ist, ist nicht mehr als ein paar einfache Schritte in Tanzrichtung vorwärts. Die charakteristische Dynamik, die Bewegungen des Fußes, die Drehungen der Hüfte und auch die Bewegung der Arme wurden ausgelassen. Das sind gerade die Details, die dem Tanz seinen Charakter verleihen, zumindest nach Ansicht des Choreografen des Galimba-Tanzes, wie ich ihn in Moskau gesehen habe. Ob dieser Choreograph in Moskau die Tanztradition der Nekrasov-Kosaken wirklich kannte, kann ich nicht beurteilen. Später sah ich mehrere Versionen des Tanzes Galimba, die wieder anders aussahen.

Ich verwende oft Metaphern, um etwas zu verdeutlichen:

Spaghetti ist ein Gericht der italienischen Küche. Mit einer Art Soße darüber wird die Spaghetti zu einem italienischen Gericht aus einer bestimmten Region, wie zum Beispiel Spaghetti Bolognese (aus der Stadt Bologna). Da ich den Tanz Posiya baba auf You Tube gesehen habe, kann ich ihn mit einem servierten Spaghettigericht vergleichen, von nur Nudeln, ohne Soße und sogar ohne Salz gekocht, aber die als Spaghetti Bolognese angeboten wird. Meiner Meinung nach kann man von einem italienischen Kochkurs mehr erwarten, als nur zu lernen, dass man die Spaghetti zehn Minuten lang in reichlich kochendem Wasser kochen muss. 

Es ist keine Ausnahme, dass in Kreisen des Freizeitvolkstanzes, des sakralen Tanzes, des Kreistanzes, Tänze angeboten werden, die mir als Produkt eines oberflächlichen "Ethno-Shoppings" erscheinen. Ich habe nichts dagegen, dass Tänze zu einem schönen Musikstück erfunden werden, aber man sollte ihnen nicht ein Etikett anheften, das mehr als einen schönen Tanz zu schöner Musik suggeriert. Wenn man an Tanzkreise einen Tanz aus einer bestimmten Kultur anbietet, sollte dieser bestimmte Kriterien erfüllen. Nur ein paar Schritte zu einer bestimmten Musik, machen einen Tanz nicht zu einem Produkt, das als Folkloretanz bezeichnet werden kann.

Und hier komme ich zum eigentlichen Punkt: Vor langer Zeit habe ich ein Lied aus der Tradition der Kuban-Kosaken mit einem Tanzstil kombiniert, der von einem Choreographen stammt, der behauptet, einen Tanz der Tradition der Nekrassov-Kosaken geschaffen zu haben. Ich bereue es, das jemals getan zu haben, aber es ist passiert und ich muss damit leben. Aber wenn ich auf You Tube sehe, was von meinem ursprünglichen Tanz übrig geblieben ist, kann ich nur dankbar sein, dass mein Name nicht erwähnt wird.    

https://www.youtube.com/watch?v=35ZaAS2S1iY (starting 20:40)

https://www.youtube.com/watch?v=bc0PIW2nytg

https://www.youtube.com/watch?v=XcrZeQaXY2I (starting 4:50)

https://www.youtube.com/watch?v=CZJ0fmLLfsQ

 

Ein Beispiel von choreografiertem Tanz der Nekrasov Kosaken.   

https://www.youtube.com/watch?v=0fJHqEtVpAA