JuliabyUlrichGottlieb„Ich drehe mich seit über einer halben Stunde ohne Unterbrechung in einem schnellen Tempo um die eigene Achse – plötzlich wird alles auf eine ganz wunderbare Art und Weise ruhig, unendlich ruhig in mir und rund um mich, ich habe das Gefühl, als ob ich in einer Säule wäre, als ob ich still stünde, verankert im Boden, mit allem verbunden. Nicht mehr ich drehe mich, sondern die Welt dreht sich um mich herum…“

Das war eines meiner ersten faszinierenden Trance-Erlebnisse beim Derwisch-Drehtanz. Abgeleitet vom lateinischen „trans-ire“ bedeutet Trance „Hinübergehen“, nämlich vom alltäglichen Bewusstseinszustand in einen nicht alltäglichen, in einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand. Die Trance zeichnet sich durch eine hochfokussierte Konzentration auf einen Vorgang aus, bei gleichzeitig sehr tiefer Entspannung und unter weitgehender Ausschaltung des logisch-reflektierenden Verstandes. Ähnlich lautet auch die Beschreibung für den Flow-Zustand. Tatsächlich gibt es WissenschaftlerInnen, die bereits das „im Flow sein“ als eine Art von Trance definieren. Die Grenzen sind fließend und es gibt graduelle Unterschiede bei der Intensität von Trance.

Die Wahrnehmung von Zeit, Raum und Emotionalität kann sich im Zustand der Trance stark verändern. Körperlich sind oft Hitze, ein leichtes Vibrieren und ein Vertiefen der Atmung zu spüren. Man unterliegt jedoch keinem Kontrollverlust und die Erinnerung an das Erlebte bleibt erhalten. Oftmals wird die Trance von einem Gefühl „der tiefen Anbindung an das Sein“ begleitet. Das erklärt auch warum in manchen Religionsgemeinschaften und insbesondere bei Mystikern die Trance praktiziert wird: In diesem Bewusstseinszustand kann Nähe und Verbundenheit mit dem Göttlichen erfahren und gespürt werden. Das Heraustreten aus Zeit und Raum mit einem gleichzeitigen Erleben der Einheit des Ich, der Welt und der Quelle allen Seins ist daher typisch für die mystische Trance. In einigen Sufi-Gemeinschaften werden Trancezustände durch Drehtanz induziert. Zu den in Europa bekanntesten zählen die tanzenden Mevlevi-Derwische in der Türkei, deren Ursprung auf den berühmten islamischen Mystiker Mevlana Dschelaleddin Rumi zurückgeht.

Darüber hinaus gibt es noch viele andere Arten von Trance, die sich durchaus in ihrer Wirkungsweise und Erscheinungsform unterscheiden: Hypnotische Trance, Schamanistische Trance, Besessenheitstrance, drogeninduzierte Trance, therapeutische Trance uvm.

 

In der Wiederholung liegt die Kraft – Repetitive Bewegungen

Drehen, Wirbeln, Schütteln, Stampfen sind besonders trancefördernde Bewegungstechniken. Oftmals werden sie unterstützt von rhythmischen Klängen. Was all diese Techniken gemeinsam haben: Es wird eine einzige Bewegung oder ein einziges Bewegungsmuster mehrfach und intensiv wiederholt. Anders als bei Tänzen, die auf komplexen Abläufen oder Choreografien beruhen, ist es bei Bewegungen, die ständig wiederholt werden, viel einfacher, das logisch-reflektierende Bewusstsein auszuschalten. Die Monotonie, die dabei erzeugt wird, fördert das Aufgeben der Kontrolle und kann zu einer sogenannten bewegungsinduzierten Trance führen. Daher sind viele Tanzformen mit sich häufig wiederholenden Schritten – wie das z.B. bei vielen Volkstänzen der Fall ist – Flow und Trance fördernd.

 

Was sagt die Wissenschaft?

Was die physiologischen Veränderungen betrifft, so wurde festgestellt, dass der Spiegel der Stress-auslösenden Hormone im Blutserum absinkt bei gleichzeitiger Ausschüttung von Beta-Endorphinen im Gehirn. Das erklärt den entspannten und ausgeglichenen Zustand und das länger anhaltende Wohlgefühl nach einer Trance. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass das Immunsystem bereits durch eine 20-minütige Trance stark angeregt wird.

Veränderte Bewusstseinszustände fördern das Öffnen des Bewusstseins für innere Veränderungen von früheren Konditionierungen. Diese Wirkung machen sich manche Psychotherapeut:innen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen zunutze und greifen auf tranceinduzierende Methoden zurück. Hier zeigt sich eine interessante Parallele zum Tanz der Derwische: Aus Sicht des Sufismus unterstützt die Trance des Drehtanz-Rituals die Heilung von Körper, Geist und Seele.

In den letzten Jahren hat das Interesse der Wissenschaften verschiedenster Sparten (Gehirnforschung, Psychologie, Medizin etc.) an der Trance und anderen veränderten Bewusstseinszuständen zugenommen. Lange Zeit jedoch wurde in westlichen Gesellschaften Tranceerfahrungen vernachlässigt oder auch als irrelevant oder esoterisch abgewertet. In vielen Ethnien weltweit war und ist jedoch der Zustand der Trance ein wesentliches Element von gelebten Ritualen. Wenn wir auf Trance verzichten, verzichten wir eigentlich auf eine wichtige Ressource. In diesem Sinne: „Let´s dance and trance.“

Weitere Infos über Drehtanz und Workshops: https://www.juliafraunlob.at/

Foto by Ulrich Gottlieb