Vom 21. bis 28. Mai 2016 fand unter der Leitung von Maria-Gabriele Wosien, organisiert von der Oekumenischen Akademie in Bern, eine Reise nach Chartres mit Teilnehmenden aus der Schweiz, Deutschland und Österreich statt.

Ziel dieser Reise war die weltberühmte Kathedrale, die seit Jahrhunderten Menschen aus aller Welt anzieht und die auch heutige Menschen berühren kann, auch wenn sie nicht christlich oder religiös eingestellt sind.

Was macht den Zauber dieses Bauwerks aus?
In dieser Kathedreale verbinden sich nicht nur Architektur, Skulptur und Glasmalerei des Mittelalters in spiritueller Weise, Chartres ist auch eine philosophisch-theologische Strömung, eine Schule des Denkens, entstanden auf dem Hintergrund einer ganz eigenen Ideenwelt, im Zuge der neu entstehenden Gotik.

In alter Zeit war Chartres auch ein Ort der Heilung, mit einer Heilquelle als Zentrum. 1194 neu auf dem abgebrannten Vorgängerhaus errichtet, sollte die Kathedrale das Himmlische Jerusalem, dem neuen Zeitgeist entsprechend, darstellen. Alles Schwere sollte überwunden werden, sollte überführt werden in Leichtes, Lichtes.

Die Sonne als Sinnbild für Christus, sollte in die Kirche einströmen. Dafür hat man Wände aufgelöst und durch große Fenster ersetzt, die Bilder bzw. Bildfolgen aus der Bibel und aus dem Leben der Heiligen und Mätyrer darstellen.

Die dreigeteilten Portale weisen eine Fülle archetypischer Figuren auf, meisterlich aus dem Sandstein gehauen, mit Szenen, die dem Gottes- und Menschenbild des hohen Mittelalters zugrunde lag. Wie Gott sich in der Person Christi vermenschlicht hat, so vergöttlicht sich der Mensch in der Gnadengestalt der Gottesmutter Maria. Gott ist Mensch geworden, auf dass der Mensch Gott werde.

Notre Dame de Chartres ist eine der Maria geweihte Kathedrale. Schon in vorchristlicher Zeit wurde die virgo paritura, die Jungfrau, die gebären wird, kultisch verehrt. Spätere szenische Darstellungen verschmelzen mit symbolischen Bildern zu einer Theologie der Maria-Sophia, der göttlichen Weisheit.

Die platonisch gestimmten Lehrer der Schule von Chartres waren verwandt mit der Geistesströmung der Zisterzienser des Bernhard von Clairvaux, von dem sich ein Ausspruch direkt auf Maria bezieht: "Das Licht, welches Glas durchdringt, ohne es zu zerbrechen, gleicht dem Wort Gottes, dem Licht des Vaters, das durch den Leib der Jungfrau gegangen ist." Damit ist Maria in jedem der einzelnen Fensters der Kathedrale geistig anwesend.

Chartres Kenner und Kunsthistoriker Wolfgang Larcher eröffnete uns durch seine geistreichen und spannenden Ausführungen Einsichten in die Denk- und Geisteswelt sowie in die hohe Spiritualität der Schule von Chartres. In den frühen Morgenstunden und am Abend, vor Eröffnung und nach Schließung der Kathedrale, hatten wir die Möglichkeit in Stille und im Sakralen Tanz der einzigartigen Atmosphäre der Kathedrale nachzuspüren. Simon Jenny sorgte zusätzlich für stimmungsvolle musikalische Untermalung.

Ich verabschiede mich von der Kathedrale und wünsche mir, dass die Begegnung mit der weisen alten Dame meinen Weg inspirieren und ein Stück weit begleiten möge.