In der Welt des internationalen Freizeitvolkstanzes tauchen regelmäßig Volkstänze auf, die sich großer Popularität erfreuen. Das gilt auch für Volkstänze, die in den Kreisen des Sacred Dance bekannt geworden sind. Ein Tanz, der mich dazu veranlasst hat etwas darüber zu schreiben, ist der russische Tanz Walenki.
Ein Volkstanz-Label
In den westeuropäischen Ländern, in den USA und sogar in den Ländern des Fernen Ostens werden Tänze aus dem internationalen Repertoire der Volkstänze angeboten. Solche Volkstänze können als Volkstanz eines bestimmten Landes oder einer bestimmten ethnischen Gruppe benannt werden. Es gibt Volkstänze, die mit dem Namen eines spezialisierten Volkstanzlehrers oder -lehrerin in Verbindung gebracht werden. Manchmal wird ein solcher Volkstanz nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit Hintergrundinformationen versehen. Zum Beispiel kann ein Tanz als traditioneller Volkstanz bezeichnet werden. Die Ankündigung, dass es sich um einen authentischen oder traditionellen Volkstanz aus einer bestimmten Region oder einem bestimmten Dorf handelt, kommt bei den Kursteilnehmer:innen immer besser an, als wenn ehrlich gesagt wird, dass es sich um einen Tanz handelt, der von eineR Volkstanzleiter:in aus dem Amateurbereich selbst ausgedacht wurde. Ja, auch ein:e Amateur:in kann sich ein paar Schritte und Bewegungen ausdenken und sie einer Gruppe zu einem schönen Musikstück beibringen. Ob die Musik und der Tanzstil in einem solchen Fall stimmen - ist das für die meisten Tanzenden wichtig? Wichtig ist vor allem, ob ein selbst ausgedachter Fantasietanz bei den Tänzer:innen einer Gruppe ankommt.
Volkstanz als Handelsware
Wer im Freizeitvolkstanz aktiv ist, braucht ein Repertoire an internationalen Volkstänzen für die Gruppen, die er/ sie unterrichtet. Die Leute kommen um einen vergnüglichen Tanzabend zu verbringen, also muss man als Volkstanzleiter:in über genügend Tänze verfügen. Um ein Repertoire zu sammeln, kann ein:e Volkstanzleiter:in Kurse bei spezialisierten Volkstanzlehrer:innen besuchen. Dort kann man dann die Musik und Tanzbeschreibungen kaufen. Damit bin ich beim Thema der Vermarktbarkeit des Volkstanzes und seiner Musik angelangt. Denn bei der Ausübung des Volkstanzes geht es nicht nur um den kulturellen Aspekt. Ein Volkstanz kann auch als Handelsware bezeichnet werden, mit der sich Geld verdienen lässt.
Die Tänze, die in der Welt des Freizeitvolkstanzes im Westen angeboten werden, können seit vielen Jahrzehnten als Handelsware bezeichnet werden. Das begann in den USA, wo bereits in den 1940er Jahren Schallplatten mit Volkstanzmusik und Tanzbeschreibung zum Verkauf angeboten wurden. So wie in den europäischen Ländern viel von den USA kopiert wurde, so war es auch mit dem Volkstanz.
Viele haben es geschafft, das Unterrichten von Volkstanz zu ihrem Hauptberuf zu machen. Ich bin einer davon. Für den Volkstanz wird genauso geworben wie für Lebensmittel. Das Quarkdessert, bei dem auf der Verpackung steht, es sei mit „frischen“ Himbeeren gefüllt, soll durch das Wort „frisch“ die Marktfähigkeit fördern. Die Bezeichnung „frisch“ ist hier ebenso irreführend wie „traditionell“ bei vielen Volkstänzen. Wenn in den Hintergrundinformationen eines Volkstanzes angegeben wird, dass der Tanz als traditionell bezeichnet wird, kann man sich fragen, was das Wort eigentlich genau bedeutet.
Die Frage, ob ein Tanz es verdient, als traditioneller Volkstanz bezeichnet zu werden oder nicht, wird zu einer heiklen Diskussion. Ein Tanz, der von einem/ einer Ethnochoreolog:in, einem/ einer professionellen Choreograph:in oder einem/ einer Amateur-Folklorist:in aufgezeichnet wurde und seinen Weg aus dem Dorf, in dem er aufgezeichnet wurde, in die Freizeitvolkstanzpraxis in den westlichen Ländern gefunden hat, besteht aus vielen verschiedenen Stufen und Facetten. Dabei spielen persönliche Einflüsse eine große Rolle. Sie führen mehr oder weniger stark zu einer Anpassung oder Umgestaltung des ursprünglichen Tanzmaterials, denn der Tanz muss marktfähig sein. Wenn Zweifel an der Marktfähigkeit bestehen, muss der Tanz im Interesse der Marktfähigkeit angepasst werden. In westlichen, rekreativen Volkstanzgemeinschaften werden solche Tänze trotz Anpassungen und Bearbeitungen oft noch als traditionelle Volkstänze bezeichnet. Ich finde es fragwürdig, wenn neu geschaffene Volkstänze als Volkstanz einer bestimmten Kultur oder Region des Landes angeboten werden, obwohl es sich eigentlich um einen Fantasietanz aus eigener Feder handelt.
Vertrauenswürdige Quellen
In der Welt des Freizeitvolkstanzes gibt es Volkstänze, die von spezialisierten Volkstanzlehrer:innen eingeführt wurden. Oft kommen solche Spezialist:innen aus einem professionellen Volkstanzensemble aus einem ehemaligen kommunistischen osteuropäischen Land. Die Grundlage für diese Spezialist:innen ist der Volkstanz als darstellende Kunst. Er mag zwar auf dem traditionellen Volkstanz basieren, ist aber in jedem Fall choreografisch angepasst und stilistisch definiert, so wie der/ die Choreograf:in festgelegt hat, wie die Schritte und Figuren auf der Bühne auszuführen sind. In den osteuropäischen Ländern gibt es auch heute noch Berufsausbildungen für Tänzer:innen, die in einem professionellen Volkstanzensemble arbeiten würden. Solche Berufsschulen für Volkstanz funktionieren ähnlich wie eine Ballettakademie, in der Balletttänzer ausgebildet werden.
Bei vielen Volkstänzen aus Ländern sowie Bulgarien, Griechenland oder anderen Ländern kann ich nicht beurteilen, ob sie die Bezeichnung Volkstanz, traditionell oder authentisch verdienen, oder nicht. Über russische Tänze kann ich das bis zu einem gewissen Maß. Mein intensives Studium des russischen Volkstanzes als darstellende Kunstform und der traditionellen Tänze Russlands hat mich an einen Punkt gebracht, an dem ich mich als Spezialist für diesen Tanzstil und diese Form bezeichnen kann. Die russischen Tänze, die ich in die Welt des Freizeitvolkstanzes eingeführt habe, können nicht als traditionell bezeichnet werden. Als Hintergrundinformation sage ich lediglich, dass es sich um meine eigenen Adaptionen von Stilbeispielen handelt. Diese Tänze gehen zum Teil auf den russischen Bühnenvolkstanz zurück, der wiederum auf Feldforschungen von Choreograph:innen zurückgeht, die sich für ihre Choreographien für ihre professionellen Volkstanzensembles inspirieren ließen. Außerdem gehen einige meiner Tänze auf Forschungsergebnisse von Musikethnolog:innen oder Choreolog:innen zurück, die den traditionellen Tanz Russlands erforscht und ausführlich studiert haben.
Walenki, ein russischer Volkstanz
All dies führte zu dem russischen Tanz Walenki, der zwar nicht von mir stammt, aber in der ganzen Welt bekannt und beliebt ist. Meinem Freund Radboud Koop bin ich zu großem Dank verpflichtet für seine Nachforschungen über diesen Tanz. Radboud hat Kontakte zu vielen Menschen in der Welt des internationalen Freizeitvolkstanzes, sowohl in den Niederlanden als auch im Ausland. Es hat sich herausgestellt, dass dieser Tanz Walenki Bernard Wosien (1908 - 1986), dem Begründer des Sacred Dance, zugeschrieben wird. In einer der Beschreibungen des Walenki, die von Andrew Carnie (USA) stammt, lese ich Folgendes:
Walenki - Валенки - Sacred Circle/ Russia
This description ©2024, Andrew Carnie. Choreographed by Bernhard Wosien. This is a Sacred Circle/Danza Circular dance set to a traditional Russian song about Валенки/ Valenki, which are felted Russian boots. The spelling "Walenki", with a w, is probably because of the German choreographer, but the name is pronounced with a "v" sound at the beginning. Linda Blohowiak taught this dance at the 2024 Door County Folk Festival. She learned the dance from Edwidge Munn and Jocelyne Vaillancourt. It was also taught by Richard Mark-Coates and Anna Barton.
Soweit der Text von Andrew Carnie. Übrigens ist er nicht der einzige, der berichtet, dass der Tanz Walenki aus dem choreografischen Werk von Bernhard Wosien stammen soll.
Zunächst einmal ist der Hinweis nicht korrekt, dass die Musik traditionell wäre. Es handelt sich um ein populäres Lied aus der Sowjetunion, das 1972 auf Schallplatte veröffentlicht und von der Sängerin Александра Стрельченко - Alexandra Streltschenko (1937 - 2019) gesungen wurde. Der Originaltitel des Liedes lautet Мне без валенок беда - Mnje bjes walenok bjeda (Ohne meine Filzstiefel bin ich zu bedauern). Unzählige Sängerinnen und Sänger in Russland haben dieses Lied in ihr Repertoire aufgenommen. Der Inhalt des Liedes handelt von einem Mädchen, das sich im Winter mit ihrem Liebhaber am Tor verabredet. Aber ihre Mutter hat ihre Filzstiefel versteckt, um die romantischen Verabredungen ihrer Tochter zu verhindern. Die Musik des Liedes wurde von Григорий Пономаренко - Griogori Ponomarenko (1921 - 1996) komponiert. Er schrieb mehrere populäre Lieder, die zu Zeiten der Sowjetunion zu echten Top-Hits wurden und bis heute zu den russischen „Evergreens“ gezählt werden können. Der Text ist von Виктор Дюнин - Viktor Djunin (1944). Dass Walenki also ein traditionelles russisches Lied wäre, ist eine Fehlinformation. Nun gut, wie viele Menschen würden solche Informationen für wichtig halten? Solange der Tanz Spaß macht, ist das doch die Hauptsache.
Ich habe die Quelle gefunden
In den Hintergrundinformationen lese ich, dass Bernhard Wosien den Tanz Walenki choreografiert hat, was nicht stimmt. Ich finde es bemerkenswert, dass der Tanz Walenki hauptsächlich in Deutschland, England und den USA bekannt ist und -auf Nachfrage- in den Niederlanden kaum verbreitet ist. Dies ist umso auffälliger, weil die Person, die den Tanz ursprünglich eingeführt hat, in den Niederlanden lebte. Walenki wurde Mitte der 1970er Jahre von Wally (Valentina) Gerritsen erfunden, einer Frau, die genauso wie meine Mutter in den Jahren 1945 als Kriegsbraut in den Niederlanden landete. Sie wurde in der Sowjetunion geboren und während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert. Dort verliebte sie sich in einen niederländischen Zwangsarbeiter, Jan Gerritsen, und landete so in den Niederlanden. Soweit ich herausgefunden habe, ist Wally Gerritsen schon vor langer Zeit gestorben. Sie bot in den Niederlanden nicht aktiv russische Tänze in Volkstanzkreisen an, sondern kümmerte sich mehr um das Tanzen für Senior:innen. In den 1970er Jahren nahm sie an einem Kurs MBvO (Mehr Bewegen für Senioren) teil.
Als Teil einer der Aufgaben in diesem Kurs kreierte sie den Tanz Walenki. Die niederländische Volkstanzspezialistin Elsche Korf war Dozentin in demselben Kurs. Sie konnte mir viele Informationen geben und auch erstellte sie die Tanzbeschreibung für Wally Gerritsen. Wally Gerritsens Kenntnisse der niederländischen Sprache und auch der Erstellung einer Tanzbeschreibung waren nicht ausreichend. In dieser Beschreibung von Elsche Korf heißt es auch, dass Wally Gerritsen Urheberrechte an ihrer Choreografie beansprucht. In der Beschreibung von Walenki, die ich gesehen habe, wurden zwei Zeichnungen abgebildet. Ich habe diese Zeichnungen sofort erkannt. Sie stammen aus dem Buch Русские танцы - Russische Tänze, das 1955 in der Sowjetunion veröffentlicht wurde und Beschreibungen einer Reihe von Choreografien von Татьяна Устинова - Tatjana Ustinowa (1908 - 1999) enthält. Dieses Buch befindet sich unter einer Menge russischer Tanzliteratur in meinem Bücherschrank. Es ist anzunehmen, dass auch Wally Gerritsen dieses Buch besaß. Die Grundform von Wally Gerritsens Tanz Walenki ist frei nach einem Ausschnitt aus einer der in diesem Buch beschriebenen Choreographien von Tatjana Ustinowa. Die betreffende Choreografie heißt Калининские пляски - Kalininskieje pljaski, was Tänze aus dem Kalinin-Gebiet bedeutet. In der Beschreibung dieser Choreografie von Ustinowa sind diese Abbildungen zur Erläuterung hinzugefügt worden.
Tatjana Ustinowa
Tatjana Ustinowa arbeitete von 1939 bis zu ihrem Tod 1999 als Choreografin mit dem Pjatnitski-Volkschor in Moskau. Ihr choreografisches Werk umfasst u.A auch Choreografien, die als Ergebnis ihrer eigenen Feldforschungen in verschiedenen Regionen Russlands entstanden sind. Tatjana Ustinowa gründete 1970 ihre eigene Tanzschule, die mit dem Pjatnitsi-Volkschor verbunden war. In den 1980er Jahren lernte ich Teile dieser Choreografie von Ustinowa während meiner Weiterbildung an dieser Tanzschule. Übrigens heißt Kalinin heute wieder Twer, wie es vor der russischen Revolution hieß. Twer ist die Region, in der Ustinowa geboren wurde. Ihre allerersten Choreografien stammen aus dem Jahr 1939 und basieren auf ihren Feldforschungen in ihrer Heimatregion Twer. In dieser Choreografie von Ustinowa liegt also der Ursprung des Tanzes Walenki. Die Musik für den betreffenden Teil von Ustinowas Choreografie war offensichtlich nicht das Lied, das Wally Gerritsen für ihren Tanz Walenki verwendete. Daraus ergibt sich, dass die Credits für den Tanz Walenki nicht Bernhard Wosien gehören, sondern Wally Gerritsen, die für ihren Tanz einen Auszug aus der Beschreibung in Tatjana Ustinowas Buch verwendet hat. Aber Bernhard Wosien ist in bestimmten Tanzkreisen auf der ganzen Welt ein bekannter Name und Wally Gerritsen ist völlig unbekannt. Ein bekannter Name kann einen Tanz auch besser vermarktbar machen.
Gute - oder unangemessene Tänze?
Abschließend hoffe ich, dass ich nicht den Eindruck erweckt habe, dass ich der Meinung bin, dass nur „verantwortungsvolle“ Tänze getanzt werden sollten. Ich begrüße jede Gelegenheit, bei der Menschen zum Tanzen kommen, auch wenn ein Tanzgenre bevorzugt wird, zu dem ich keine Vorliebe habe, wie Line Dance oder Sacred Dance, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ich finde es aber wichtig, dass jemand, der Volkstanz unterrichtet, in der Lage sein sollte Hintergrundinformationen über einen Tanz zu geben. Darin liegt für mich das Problem. Wenn jemand einer Gruppe einen Tanz beibringt, finde ich es wünschenswert, dass Hintergrundinformationen gegeben werden. Dass die gelieferten Informationen über einen Tanz nicht in allen Fällen richtig sind oder sogar reiner Blödsinn sein können, habe ich versucht, am Beispiel von Walenki deutlich zu machen. Und wenn diese Fehlinformationen in der Welt verbreitet werden, weil der Tanz in Gruppen erfolgreich ist und von -tausenden von Menschen weitergegeben wird, finde ich das bedauerlich. Ich habe auch nichts dagegen, wenn Leute aus dem Laienbereich des Freizeitvolkstanzes ihre eigene Kreativität ausleben und eigene Tänze erfinden. Was ich jedoch verurteile, ist, wenn ein selbst kreierter Tanz von seinem Schöpfer als authentischer oder traditioneller Volkstanz einer bestimmten Kultur dargestellt wird, mit dem einzigen Ziel, die Marktfähigkeit durch ein solches Etikett zu fördern. In solchen Fall handelt es sich nicht um Volkstanz, sondern um Volksbetrug. Außerdem bin ich der Meinung, dass zum Beispiel ein Volkstanz bestimmte Kriterien erfüllen sollte. Um einen Tanz als russischen Tanz anzubieten, sollten Schritte eingesetzt werden, die im russischen Tanz vorkommen. Wenn Schritte verwendet werden, die nicht im russischen Volkstanz vorkommen, aber wohl in israelischen oder tatarischen Tänzen zu finden sind, erfüllt ein Tanz nicht die Kriterien, um als russischer Tanz bezeichnet zu werden. Die Tatsache, dass die begleitende Musik russisch ist, macht den Tanz doch nicht zu einem russischen Tanz. Aber wie viele Leute, die Volkstänze praktizieren, würden das für wichtig halten? Wer die Ansicht vertritt, dass das nicht so wichtig ist, macht es den Scharlatanen in der Welt des Freizeitvolkstanzes sehr leicht.
Zum Schluss denke ich, dass es eine interessante Frage ist, wie der Tanz Walenki, ein wenig bekannter Tanz in den Volkstanzkreisen der Niederlande, international ziemlich bekannt werden konnte. Auf YouTube habe ich viele Aufnahmen gefunden, die zeigen, wie Walenki auf Konten in Deutschland, England, Polen, Spanien bis hin zu den USA getanzt wird. Über welchen Weg gelangte Walenki in die Kreise des Sacred Dance und wer verbreitete als Erster die Information, dass Walenki von Bernhard Wosien choreografiert wurde?
Hennie Konings
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