In diesem Artikel möchte ich den Besuchern von Choretaki den Pjatnitski Volkschor vorstellen. Weil ich in den letzten Jahren nicht mehr nach Moskau gereist bin, habe ich verstärkt die Möglichkeiten genützt, die das Internet insbesondere Youtube bieten. So kann ich meine Verbindung zu Moskau mit Hilfe des Internet (Links zu Video/ Fernsehaufnahmen) aufrecht erhalten. Allerdings wirkt etwas anzuschauen ohne weitere Informationen ziemlich begrenzt. Deswegen möchte ich dazu auch mehr Hintergrundinformation vermitteln.

Früher war ich mindestens zwei Mal im Jahr in Moskau. Als ich in 1966 das erste Mal auf Besuch in Moskau war, war es ein Erlebnis. Und weil dort auch meine Verwandten leben, war ich oft in der Hauptstadt der UdSSR - die Kulturstadt Nummer 1 in der Sowjetunion. So hatte ich 1969 in Moskau eine Vorstellung vom Pjatnitski Volkschor gesehen - ein großes Ensemble mit einem Chor, einem Orchester und einer Tanzgruppe. Der Chor war mir bekannt, denn wir hatten zu Hause in Holland Schallplatten von diesem Ensemble und die meisten Lieder, die darauf zu hören waren, fand ich wundervoll. In späteren Jahren habe ich Pjatnitski Volkschor in Moskau oft gesehen, schließlich habe ich an der dem Ensemble angeschlossenen Schule in 1987/1988 meine Weiterbildung machen dürfen. Es war für mich immer ein Erlebnis als ich die Gesamtproben vom Ensemble während meines Aufenthalts dort anschauen durfte. Als die Proben mit Chor, Orchester und Tanzgruppe stattfanden, saß ich mit Gänsehaut und manchmal mit zugeschnürter Kehle am Rand. Pjatnitski Volkschor verfügt seit 1970 über eine eigene Schule für die Ausbildung von SängerInnen und TänzerInnen. Die Abteilung Tanz, an der ich meine Weiterbildung absolvierte, wurde in meiner Zeit von Olga Solotowa geleitet. Olga Solotowa begann in 1945 als Tänzerin beim Pjatnitski Volkschor, stieg auf zur Solistin und wurde später die Assistentin von Tatjana Ustinowa. Ustinowa war die Gründerin (1938) und Choreographin der Tanzgruppe bis sie in 1999 starb. Es war für mich ein großes Privileg, Tatjana Ustinowa persönlich kennen zu lernen und eine Weiterbildung in der Ustinowa-Schule bei Olga Solotowa machen zu dürfen.

Dieser erste Link zeigt Pjatnitski Volkschor in einem Konzert im Kremlin Konzertsaal in 2011. Man sieht Chor, Orchester und Tanzgruppe. Alles was das große Publikum von einem russischen Ensemble erwartet, ist da drin zu sehen.

 

Hier ist nur der Chor und das Orchester zu sehen in einem Film, der in 1953 produziert  wurde. Das Lied, das gesungen wird, ist “U naschej Kati gore mnoga’’ (Unsere Katja hat viel Kummer), ein Tanzlied aus Süd-Russland.

Das gleiche Lied in einer neuen Fassung, jetzt auch mit der Tanzgruppe dazu. Am Ende kommen auch die Gesang- und Tanz-StudentInnen von der eigenen Ustinowa Schule auf die Bühne um die letzte Strophe mit zu singen. Dieses Konzert fand 2006 statt.

 

Wie ist der Pjatnitski Volkschor entstanden?

Am 2. März 1911 fand in Moskau ein Konzert statt von einem Chor, der aus Bauern bestand, die aus Dörfern der verschiedenen südlichen Regionen Russlands kamen. Diese Gruppe von Bauern war zusammengestellt von Mitrofan Pjatnitski (1884 -1927), ein Folklorist mit großem Interesse für alte überlieferte polyphone Gesangstradition der Dorfbewohner von Russland. Die Bauern wurden in dieser Zeit von den Städtern als rückständige Bevölkerungsgruppe betrachtet. Pjatnitski bot mit seinem Chor dem Moskauer Konzertpublikum ein Konzert an, in dem alte traditionelle Lieder, Tänze und Musik zu Gehör gebracht wurden und er hatte Erfolg mit seiner Gruppe von Bauern. Unter den Konzertbesuchern befanden sich viele Künstler, u.a. auch der Komponist Rachmaninov und der damals weltberühmte Sänger Fjodor Schaliapin, die beide Pjatnitski lobten für seine Initiative. Das Moskauer Theater-und Konzertpublikum war auch sehr begeistert und Pjatnitski hatte viel Erfolg. In den ersten Jahren der Sowjet-Union zeigte auch Lenin großes Interesse und direkt nach der Revolution wurde die Gruppe von Bauern ein professionelles Ensemble.

Nach dem Tod von Pjatnitski bekam der Chor den Namen Pjatnitski Volkschor. In den dreißiger Jahren wurde der Chor ein Staatsensemble und wurde geleitet von Wladimir Sacharov (1901 -1956) und Pjotr Kasmin (1892- 1964). Eine von Tatjana Ustinova (1908 -1999) gebildete Tanzgruppe und ein von Wladimir Chwatov (1891 – 1975) zusammengestelltes Orchester wurden in 1938 dem Chor angeschlossen. Dieses Leitungsteam hat für das Ensemble die ‚Goldene Jahre’ besorgt. Das Repertoire von Pjatnitski Volkschor umfasste seit jenen Jahren zwar noch traditionelle Lieder, aber so bearbeitet, dass sie ein breites Publikum erreichen konnten. Einige der in Folklore-Stil komponierten Lieder, besonders jene von Sacharov und Isakovski, wurden in der Sowjet-Union wahre Hits. Nach dem zweiten Weltkrieg war der Pjatnitski Volkschor noch immer sehr beliebt und bis heute werden noch die Hits von damals im Repertoire aufgenommen.

In 1962 wurde Walentin Lewaschov (1915 – 1994) der künstlerische Leiter und kamen mehr und mehr pompöse, politische und propagandistische Lieder ins Repertoire. Die Folge war, dass der Chor nicht mehr so sehr beliebt war bei dem Publikum in der Sowjet Union wie vorher.

Die neunziger Jahre im vorigen Jahrhundert waren sehr schwierig für das Ensemble. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der Chor ohne musikalischen Leiter. Lewaschov wurde in Frührente geschickt, Konzerte gab es kaum und viele SängerInnen, MusikerInnen und TänzerInnen versuchten nebenbei ein bisschen Geld zu verdienen, weil die Gehälter beim Chor zu  niedrich waren um in diesen schwierigen und chaotische Zeit zu überleben. Die Zukunft hat für den Pjatnitski Volkschor nicht gut ausgesehen. Tatjana Ustinowa war mehr oder wenig diejenige, die das Ensemble als Gesamtleiterin leitete. Ende der achtziger Jahre war vom Kulturministerium eine Beratungskommision ins Leben gerufen worden um das schlecht funktionierende Ensemble zu retten. Ein Versuch mit dem Komponisten Valeri Kalistratov als künstlerischer Chorleiter hatte wenig Erfolg.

Ab 1989 war Aleksandra Permjakowa als geschäftliche Leiterin beim Pjatnitski Volkschor angestellt worden. Permjakowa war vorher Sängerin und Solistin im Chor. In 1995 wurde sie auch als gesamt-künstlerische Leiterin vom Ensemble angestellt. Als Tatjana Ustinowa in 1999 starb, war sie damit die letzte Person, die noch zusammen mit Kasmin und Sacharov dem Pjatnitski Volkschor die ‚Goldenen Jahre’ besorgt und so zu einem der erfolgreichsten Ensembles in der Sowjetunion, und auch im Ausland gemacht hatte. Aleksandra Permjakowa hatte in ihrer Rolle als künstlerische Leiterin angefangen an einer ‚Wiedergeburt’ für Pjatnitski Volkschor zu arbeiten. Und nach der Jahrtausendwende war Pjatnitski Volkschor, Dank ihres Einsatzes, langsam wieder auf die Bühnen Russlands mit Erfolg zurück gekehrt: mit neuem Repertoire oder mit den alten Liedern, viele davon jetzt in einer Bearbeitung von Permjakowa.

Hier folgen einige Beispiele:

Das Kosaken Tanzlied „Pri dolinuschkje“ (Im Tal) nur vom Chor gesungen und getanzt:

Auch nur von Chormitgliedern ausgeführt ein russisches Tanzlied „Wdolj po ulitse schiroko“ (Entlang der breiten Strasse)

Zusammenfassend kann ich sagen, dass der Pjatnitski Volkschor jetzt ein Programm von Liedern und Tänzen zeigt, das ich schätzen kann. Alle Mitwirkenden sind multitalentierter als vorher, so sind z.B. die Sänger (vor allem die Männer) bessere Tänzer geworden und die Musiker vielseitiger, weil sie mehrere Instrumente spielen. Von den früheren Mitgliedern aus der Zeit als ich noch da studierte, ist keines mehr da. Der Pjatnitski Volkschor und vor allem seine Choreografin von damals, Tatjana Ustinowa, waren und sind für mich immer noch eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für meine Arbeit. Tatjana Ustinowa war eine der interessantesten Choreografinnen des russischen Tanzes, die regionale Volkstanztraditionen für ihre Choreografien verwendete.

Als allgemeine Bemerkung über Fassungen von Permjakowa fällt auf, dass die Chormitglieder viel komplexere choreographische Bühnenbewegung ausführen und schwierigere Tanzschritte machen müssen (vor allem die Männer), als in früheren Zeiten unter Ustinowa.

Hier ist ein Beispiel zu sehen von einem  traditionellen Tanz aus den Kursk Gebiet „Timonja“, so wie es damals noch von Dorfbewohner getanzt wurde. Es ist ein Ausschnitt aus dem Film „Narodnij Tanjets“ aus 1970.

Der gleiche Tanz ausgeführt von einem Amateur Folkloreensemble aufgenommen in 2006

„Timonja“ von Ustinowa aufgenommen in 1977:

Und eine Bearbeitung von „Timonja“, so wie Permjakowa sich es wünscht (die ersten 3.40 Minuten wird Lipetsk Stradania gesungen).

Was auffällt in all diesen Aufnahmen von “Timonja” ist, dass die charakteristischen Kennzeichen dieses Tanzes immer noch zu erkennen sind: Frauen spielen Panflöten; typische Bewegungen und Schritte wie z.B.:

  • Dreier-Aufstellung
  • Frauen tanzen zumeist vorwärts
  • Männer tanzen zumeist rückwärts und
  • Sprünge mit beiden Beinen

 Hennie Konings, im Oktober 2013

Comments

Ein kostbarer Schatz diese Hintergrundinformation zu den russischen Tänzen und alten Traditionen! Eine, die auch aufmerksamst den Erläuterungen beim WE am 5./6.Oktober 2013 in Großrußbach lauschte.