In Pieria im Norden Griechenlands auf den wilden und waldreichen Hängen vom Berg Olympus haben entlegene Dörfer noch viele alte Bräuche, Tänze und Lieder bewahrt. Die Quelle von Pieria ist der legendäre Geburtsort der Musen, der mädchenhaften Göttinnen von Erinnerung, Musik und Tanz, auf die sich in den Tanzliedern von Pieria oft bezogen wird. Die Musen, auch Nymphen genannt, werden außer mit Tanz und Musik auch mit Wasser, Wolken und Regen in Verbindung gebracht; mit Pflanzen und Heilkräutern; mit Prophezeiungen, dem Fliegen und mit Fruchtbarkeit. Nach dem Bericht des Hesiodes singen und tanzen sie bei Tag in der Nähe von Wasser und dichtem Grün, in der Nacht nähern sie sich, in Wolken gehüllt, menschlichen Behausungen. Legenden von halb göttlichen weiblichen Wesen mit diesen Attributen finden sich in ganz Osteuropa und Kleinasien, und an vielen Orten sind sie nach wie vor in Volksliedern, Geschichten und Ritualen gegenwärtig. Marguerite Rigoglioso stellt die interessante These auf, dass die Musen eine Linie von Frauen war, die in der alten Welt als Priesterinnen ausgebildet wurden mit der Aufgabe, die wohlwollenden Kräfte der Natur zum Wohlergehen der Gemeinde zu verkörpern; dies beschreibt hervorragend was geschieht, während wir tanzen.

In Papadoula, einem beliebten Sta Tria Lied aus dem Dorf Ráhi in Pieria, ist die Hauptfigur eine musengleiche junge Frau, die erst als Donnerwolke erscheint, als kraftvolle fliegende Botin des fruchtbaren Regens, sich dann aber als “Tochter des Priesters” herausstellt, und damit als eine wichtige Figur und von hoher Geburt in der Linie der Diener des Göttlichen. Sie kommt vom Weinberg, mit Äpfeln in ihrer Schürze. “Ich bitte um zwei, sie gibt mir fünf”, eine perfekte Darstellung der Segnungen der Fülle.

Der Archetyp der Muse wird noch besser sichtbar in den Bräuchen der Pirpiroúna, einem uralten sommerlichen Regenritual, das einst überall auf dem Balkan anzutreffen war. Ein junges Mädchen im Brauthemd wird mit frischem Grün bedeckt, bis sie einem kleinen Baum gleicht. Sie hält zwei Zweige, oft von Holunder, Weide, oder anderen Bäumen an, deren Blätter Federn ähneln, und wird mit Wasser bespritzt, wobei sie wie mit Flügeln mit den Armen schlägt und Regengebete singt und tanzt. In Bulgarien und Thrakien (wo die Stämme von Pieria ihren Ursprung haben) ist diese Zeremonie bekannt als Peperoúda, “Schmetterling”; in der Evrosregion des griechischen Thrakien ist das zentrale Motiv für die Stickerei auf den Hemden der Frauen entweder ein Schmetterling oder eine geflügelte Figur der Göttin.

Die Klídona ist ein weiteres Ritual der Sommersonnenwende, dessen Charakteristika mit den Musen in Verbindung stehen: Wasser, magische Pflanzen, Tanz, Gesang, Fruchtbarkeit und Wahrsagen. Genau wie die Pirpiroúna war

dieser alte Brauch einst weit verbreitet, unter vielen Namen und in vielen Variationen. Am Abend der Johannisnacht stellen in dem Dorf Miliás die unverheirateten jungen Leute jeder ein klídono her, ein mit Kräutern zusammengebundenes Holzkreuz, vor allem mit Johanniskraut (Hypericum perforatum). Mit seinen strahlend gelben Blüten, die zum Höhepunkt des Sommers erscheinen, wird Johanniskraut gleichgesetzt mit der Sonne, der Sonnenwende, und dem Motiv der sonnenköpfigen Göttin, die so häufig in den rituellen Stickereien der Balkanregion zu finden ist (und der unverheiratete Mädchen oft in ihrer Kleidung gleichen).

In jeder Nachbarschaft sammeln die Frauen diese klídona – jede mit einem persönlichen Zeichen versehen, vielleicht einem Ring – und tragen sie in grossen Behältern zur Quelle, wo die Behälter in völliger Stille gefüllt werden müssen. Unter Gesang bringen die Frauen sie dann zum alóni (Dreschplatz), der natürlich eine Verbindung zur Fruchtbarkeit hat, und tanzen bis zur Abenddämmerung, worauf die Behälter zu einem Haus gebracht werden, in dem vor kurzem ein freudiges Ereignis stattgefunden hat, so wie eine Hochzeit, Verlobung oder Geburt. Am Johannistag, dem 24. Juni, werden die Behälter zur Quelle zurückgebracht, wieder mit “stillem Wasser” gefüllt und zurückgebracht zum alóni für das Wahrsagen. Dies ist die Aufgabe einer älteren Frau von anerkannter Weisheit, die alle jungen Leute und ihre Familien gut kennt. Mit ihrer Hand in dem Behälter der klídona erkennt sie am darangebundenen Zeichen, wem jedes einzelne gehört, und ruft die Namen aus, mit denen sie die zukünftigen Ehepartner der Jungen und Mädchen “wahrsagt”. Dies findet unter viel Gelächter und Rollenspiel der vorgeblichen Schwiegereltern statt, und in Miliás, sagen noch die alten Leute, heisst es, dass nach diesem lustigen= Ausprobieren die jungen Leute sich oft wirklich verlobten.

 

Eines der Tanzlieder vom Dreschplatz in Miliás, Máro mou st’alóni sou, spricht vom Johanniskraut sowie dem heiligen Basilikum, einer weiteren Pflanze, die seit vorchristlicher Zeit in heiligen Zeremonien verwendet und mit der Göttin in Verbindung gebracht wurde. Genau wie Papadoúla begleitet auch Máro mou den Tanz Sta Tría, dessen Drei-Takt-Schritt das gebräuchlichste und am weitesten verbreitete alte Muster ist in dem selben weiten Gebiet von Osteuropa und Kleinasien, in dem Legenden von den Musen und die Bräuche der Klídona und der Pirpirouna einst blühten. Ich sehe das Sta Tria Muster als ein getanztes Zeichen für den Lebensbaum, der seinerseits die verborgene Göttin symbolisiert, die, so zeigt die Archäologie, in dieser weiten Region seit Tausenden von Jahren verehrt wurde.

Nach Marija Gimbutas, Riane Eisler und anderen waren die Kulturen der Göttin im Alten Europa matrifokal, friedlich und kunstliebend. Kooperation, Verbindung, Inklusivität, Gleichgewicht und Nachhaltigkeit sind einige der Schlüsselwerte dieser frühen Gesellschaften. Meine Forschung zeigt, dass viele der heute noch überlebenden traditionellen Kreistänze ihre Wurzeln in dieser alten Weltsicht haben, und ich finde es signifikant, dass wir diese selben Werte im Kreistanznetzwerk hervorheben. Auf diese Weise empfangen wir das Erbe einer lebendigen Linie: die jüngste Generation, die tanzt wie einst die Musen, um Schönheit und Segen in die Welt zu bringen.

Für weiterführende Informationen siehe mein Kapitel ‘Women’s Ritual Dances: An Ancient Source of Healing in Our Time’, in dem Buch Dancing on the Earth: Women’s Stories of Healing Through Dance (Findhorn Press 2011, erhältlich über meine Webseite) und meinen kürzlich veröffentlichten Artikel Auf den Spuren der Musen – Tänze aus Pieria’, in der neuesten Ausgabe von Neue Kreise Ziehen und auf meiner Webseite. In meinem Workshopprogramm für 2013 unterrichte ich vier Tänze aus Pieria, einschliesslich der hier genannten, die ich alle von den Alten der Dörfer gelernt habe. Meine ersten Reisen nach den Dörfern von Pieria war mit dem Olympus Dance & Cuture Seminar (propantos@gmail.com).

Ausgewählte Referenzen:

Dimotika tou Olympou, Politistikos Syllogos ‘Ta Patria’, Rahi, Pieria, 1998.

Kelly, Mary B., Goddess Embroideries of Eastern Europe. StudioBooks, 1989.

MacDermott, Mercia, Bulgarian Folk Customs. Jessica Kingsley Publishers, 1988.

Popov, Rachko, Butterfly and Gherman: Bulgarian Folk Customs and Rituals. Septembri Publishing, 1989.

Rigoglioso, Marguerite, The Cult of Divine Birth in Ancient Greece. Palgrave Macmillan, 2009.

Shannon, Laura, ‘Women's Ritual Dances, an Ancient Source of Healing in Our Time’ in Dancing on the Earth: Women's Stories of Healing Through Dance, ed. Johanna Leseho and Sandra McMaster. Findhorn Press, 2011.

Shapiro, H. A. Worshipping Women: Ritual and Reality in Classical Athens

Tsimitri, Maria, ‘Traditional dances and songs of Káto Milia’, in Proceedings of the First Olympus Greek Dance and Culture Seminar. Propantos, 2011. 

© Laura Shannon 2013/Übersetzung: Katharina Kroeber

Fotonachweis:

  • Peperouda und Gefährten, Vratsa, NW Bulgarien; Photo: Rachko Popov
  • Besticktes Hemd aus Pentalofos, Evros, Griechenland, mit 3 Schmetterlingen /Göttinnenfiguren und Stickereien (zigzags) Photo: Laura Shannon
  • Beim Tanzen des Sta Tria Miliás; Laura und Kostantis singen Máro Mou in Puriton, Somerset, Beltane 2013. Photo: Tara Greaves