Seit dem Neolithikum tanzen Menschen in Griechenland und dem Balkan in Kreisen, um Mutter Erde zu ehren. In unseren Kreisen heute fühlen wir noch immer die Kraft der Erde, wenn wir mit Bewusstheit tanzen. Um die Quelle des Kreistanzes zu erforschen, seine uralten Wurzeln und seine lebendigen Früchte, lasst uns jetzt gemeinsam Delphi besuchen.

Die Erdmutter Gaia war die ursprüngliche Quelle von Weisheit und prophetischer Kraft in Delphi, und die ersten Schreine dort waren ihr gewidmet. Selbst die Bedeutung des Wortes Delphi ist "Gebärmutter". Schon um 5000 vor unserer Zeitrechnung wurde Gaia (Ge / Γη) sowohl direkt am Ort des delphischen Orakels (das ungefähr um 1000 vor unserer Zeitrechnung auf Apollo umgewidmet wurde) als auch in dem früheren runden Tempel der Athena Pronaia verehrt, der im Tal unter der größeren Tempelanlage liegt. Dank der Archäologin Marija Gimbutas und anderen wissen wir, dass die spezifischen Merkmale der Anlage in Delphi – Höhle und Spalte, heilige Quelle, heiliger Lorbeerbaum, und der Omphalosstein, der den Nabel der Welt repräsentiert – typisch sind für die Schreine der Muttergöttin im alten Europa.

 

An prominenter Stelle nahe dem Apollotempel ist bis heute ein runder Dreschplatz sichtbar. Seit Jahrtausenden tanzen Menschen und führten Ritualdramen wie das Stepteria auf den Steinböden der Dreschkreise (‘halos’ oder ‘aloni’) auf.  Aus praktischer Sicht hat ein flacher, ebener und runder Fleck in einem ansonsten steinigen oder unebenen Gelände offensichtliche Vorteile, während vom rituellen Standpunkt das Tanzen auf dem aloni ein Weg war, sich mit dem Segen des Korns zu verbinden – Fruchtbarkeit, Zuwachs, und der ewige Kreislauf von Leben, Tod und Regeneration.

 
Der Kreis war ein Symbol der kosmischen Ordnung: sowohl der Tanzkreis als auch das Orakel selbst waren Wege, die Kraft und Gegenwart der Gottheiten zugänglich zu machen und zu verkörpern, und göttliche Ordnung in das Menschenreich zu bringen. Weil der Tempel der Athena Pronaia rund ist wie ein grosser aloni, können wir annehmen, dass Kreistanz ein zentraler Teil der hier dargebotenen Verehrung war.
 
Foto 1: Der zirkuläre Tholostempel der Athena Pronaia.
 
 

Da den Göttinnen in der Antike normalerweise Priesterinnen dienten und den Göttern Priester, waren die Tänzer hier wahrscheinlich Frauen. Weibliche Chorgruppen, die zum Zweck der rituellen Verehrung tanzen, werden schon im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erwähnt, während Hinweise auf einen Ritualtanz der Männer erst ab der Mitte des 6. Jahrhunderts auftauchen. Neben Gaia und Athena war Delphi auch Heiligtum des Apollo und des Dionysos, Götter der Musik und des Theaters. Zu rituellen Anlässen wie den pythischen Spielen führten Männer und Jungen choralen Tanz, Gesang und Drama auf. Männliche Verehrer des Dionysos in ausgelassen lauten, komos genannten Gruppen waren die Vorläufer des alten griechischen dramatischen Chores, und vielleicht auch der Ursprung des Kreistanzes der Männer. Der komos gab uns unser Wort Komödie und hat lebende Nachfahren in der tanzenden tseta von Drama und ähnlichen Ritualgesellschaften. Es gibt zahlreiche Darstellungen von weiblichen Verehrerinnen des Dionysus, den nicht weniger ausgelassenen Mänaden, den wilden Waldfrauen - verwandt mit den Nymphen und Musen - die die Gabe der Prophezeiung besaßen, was uns zurückführt zu der ursprünglichen Orakelfunktion der Tempel in Delphi. 

In Delphi genauso wie an anderen alten Orten werden auf archäologischen Fundstücken mehr weibliche als männliche Tänzer dargestellt. Entscheidende Stücke zur Illustration von Aspekten von Frauenritual und Tanz sind unter anderem Schalen für Trankopfer und Weissagung, und der runde Steinaltar mit einem Relief, das die Figuren einer älteren und einer jüngeren Frau zeigt, die heilige Ritualtücher oder Bänder aufhängen. (Ich habe ausführlicher darüber geschrieben in meinem Artikel ‘The Dance of Life: It’s in the Blood’). Foto 2: Der runde Altar aus dem Tempel der Athena Pronaia zeigt anmutige Frauen beim Aufhängen von rituellen Tüchern und Girlanden.
 

Die majestätische Akanthussäule zeigt drei gemessen tanzende Frauen, die mit rituellem Kopfschmuck bekrönt sind und den heiligen Dreifuss der Pythia tragen, des Orakels von Delphi. Da diese Votivsäule in der Mitte des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung aufgestellt wurde, zu einer Zeit, in der drei Pythias gleichzeitig dienten, schlage ich vor, dass diese Tänzerinnen die Pythias selbst darstellen. 

Neuere Forschung bestätigt die machtvolle Rolle der Priesterinnen in der alten griechischen Zivilisation, in direktem Gegensatz zu dem veralteten Bild der Geschichtsschreibung, die uns die Frauen im klassischen Griechenland als vom öffentlichen Leben ausgeschlossen zeigt. Gelehrte wie Robert Parker und Joan Breton Connelly haben gezeigt, dass religiöse und säkuläre Angelegenheiten nicht als getrennt angesehen wurden, genausowenig wie die säkuläre Sicht wichtiger war als die spirituelle – eher war das Gegenteil der Fall. Während Frauen in der alten Demokratie Athens tatsächlich kein Stimmrecht hatten (genauso wie die meisten Männer), hatten sie doch die Gelegenheit, sogar die Verpflichtung, als Priesterinnen in verschiedenen Schreinen zu dienen. Diese Priesterinnen hatten zu tun mit den heiligen Gesetzen, die nicht geringer galten als die von Menschen geschaffenen Gesetze, und daher “waren die Führungspositionen, die von priesterlichen Frauen eingenommen wurden, von zentraler Bedeutung für die Zentren von Macht und Einfluss.” (Joan Breton Connelly, Portrait of a Priestess, S. 5)
 
Foto 3: Die Akanthussäule mit ihren drei Frauen, die möglicherweise die Pythias repräsentieren. Ursprünglich hielten sie den Dreifuss des Orakels in ihren hochgereckten Armen.
 
Manche Priesterinnen waren auf Lebenszeit im Amt, die Ämter wurden innerhalb von Familien weitergegeben, und diese Frauen konnten so berühmt und mächtig werden, dass historische Ereignisse in der damaligen Welt nach den Jahren ihrer Herrschaft datiert wurden. Thucydides datiert zum Beispiel den Beginn des Peloponnesischen Krieges in das 48. Jahr des Priesterinnenamtes der Chrysis in Argos. Meistens war das Amt der Priesterin jedoch periodisch und zeitlich begrenzt, und Frauen von gewissem Rang verbrachten gemeinhin mindestens einmal in ihrem Leben ein paar Monate oder Jahre in rituellem Dienst. Junge Mädchen, unverheiratete Frauen, Ehefrauen, Mütter und Witwen konnten alle entscheiden, zeitweise in den Dienst einer bestimmten Göttin einzutreten, gewöhnlich einer, die ihrer Altersgruppe entsprach, und später zu ihrem normalen Leben zurückkehren. Im Wesentlichen konnte jede Frau Priesterin sein, genauso wie in unserer Zeit jede Frau sich dem Tanz anschliessen kann. Sowohl dauerhafte als auch zeitlich begrenzte Priesterinnen waren bekannt als ‘ieríes’, ‘heilige Frauen’, und ihre Aufgaben schlossen Weissagung, rituelle Prozessionen, dramatische Darstellungen und im besonderen Gruppentanz ein - den Plato, neben anderen, als eine zentrale Form der Ausbildung sah (zitiert in Maria-Gabriele Wosien, Griechenland: Tanz und Mythos).

 

 
 

In alter Zeit waren rituelle Kleidung und Schmuck ein wichtiger Teil der Transformation einer Priesterin in ihre heilige Rolle, und dies trifft in Griechenland auch heute noch auf die an Festtagen und anderen zeremoniellen Anlässen tanzenden Frauen zu. Die tanzenden Frauen der berühmten kretischen Tonskulptur sind zeremoniell gekleidet in Tierhäute derselben Art, wie sie auch die dionysischen Mänaden tragen. (Nach Gimbutas war Kreta der Ort, an dem die Göttinkultur des Alten Europa am längsten blühte; eine der vielen Legenden über die Gründung von Delphi sagt, dass die frühen Anhänger von Kreta aus herübergeschwommen sind, geführt von Delfinen, "delphinia".) In der traditionellen Frauentracht von Delphi illustriert die stark betonte Zickzackkante den Kreislauf von Leben, Tod und Regeneration - der alte Rhythmus des Korns - während die Farben weiss, rot und schwarz mit den drei Phasen im Leben einer Frau korrespondieren. 

Foto 5: Traditionelle Frauentracht aus Delphi, 19. Jhdt.
 
 
Das Amt der Pythia, der Frau, die als das Orakel von Delphi diente, war unter den wichtigsten priesterlichen Ämtern der alten Welt. In geringerem Maße war die Prophezeiung immer eine Schlüsselaufgabe der Priesterin oder “heiligen Frau”. Weissagung wurde in vielen Formen praktiziert, und wurde als eine der Gaben der Nymphen oder Musen angesehen, deren Kult in Boeotien und der Gegend um Delphi besonders stark war, genauso wie in Thrakien und der entlegenen griechischen Region Pieria, auf den Abhängen vom Berg Olympus. Auch heute wird noch in Pieria, dem legendären Geburtsort der Musen, um die Zeit der Sommersonnenwende ein Weissagungsritual der Frauen durchgeführt, das als Klídona bekannt ist und in seinem Zentrum magische Kräuter, rituelle Lieder und Tänze auf dem Dreschplatz des Dorfes hat.
 
Die in der alten Welt so wichtige Weissagung lag größtenteils in den Händen der Frauen, damals wie jetzt. Die Öffnung der Frau für die Weisheit und Kraft der kosmischen Reiche wurde seit alters her durch eine symmetrische Haltung mit hochgereckten Armen dargestellt, die deutlich die Führungsrolle der Frauen illustriert, die aus unserer Version der alten Geschichte fast völlig verschwunden ist.
Foto 6: Dies Detail eines bestickten Hemdsaumes aus dem 19. Jhdt. aus Boeotien, Griechenland, zeigt Figuren der Göttin mit hochgereckten Armen. (Museum griechischer Volkskunst, zitiert in Welters und Tepfenhart, 1988.) 

Ein anderes Beispiel einer weiblichen Führungsposition überlebt in dem Tanz Tsamikos Dorida, einem Frauentsamikos aus der Nähe von Delphi, der traditionell in einer ungewöhnlichen Anordnung getanzt wird: ein offener Kreis von Männern und Frauen, angeführt von einer Frau. Meiner Erfahrung nach hat die Person, die den Tanz führt, eine grössere Aussicht auf einen tranceartigen veränderten Bewusstheitszustand, der Einsicht und Intuition verstärkt, die Ecksteine der Weissagung.

 
Weissagung fand auch mit der Hilfe von Fussgelenksknochen von Tieren statt, die zu Tausenden in der Höhle von Korkyria hoch über Delphi gefunden wurden. Diese Höhle war auch bekannt als die Höhle der Nymphen und seit dem Neolithikum ein Ort der Verehrung; ihr weiter Eingangsbereich hat einen grossen flachen Boden, der sich zum Tanzen eignet.  Einer meiner Freunde aus Delphi, jetzt ein älterer Herr, erzählt, wie in seiner Jugend die Leute über Stunden bei Mondlicht den winzigen Pfad entlang der Felskante zu der Höhle emporkletterten und dann die Nacht durchtanzten, um die Weinlese zu feiern – das Geschenk des Dionysos, Gott des Weines. Auch wenn sich die Dorfleute hier nicht mehr zum Tanzen versammeln, ist das Gefühl spiritueller Präsenz in der Höhle doch noch ausserordentlich stark. Ich hatte die Freude, dort vor kurzem Tänze zu leiten in Zusammenarbeit mit einem Ritual, das von Dr. Marguerite Rigoglioso und anderen heutigen Priesterinnen geleitet wurde; viele Menschen fühlen heute, dass sich von Neuem ein Portal in den alten heiligen Stätten öffnet, um die Weisheit der Vergangenheit anzusprechen und von neuem im Menschenreich zugänglich zu machen.
Fotos 7 & 8: Die Höhle von Korkyria, Eingang (7) und Zentralkammer (8) mit Tanzboden und Feuerkreis.
 
 
Was in Delphi überlebt hat, hat dies trotz widriger Umstände getan. Im späten 4. Jahrhundert wurden auf den Befehl des Kaisers Theodosius die Tempel zerstört, genauso wie die anderen heiligen Orte der alten Welt. Archäologische Zeugnisse zeigen, dass Ritualtänze zu Ehren der Erde über die Existenz der Tempel hinaus weitergeführt wurden, wahrscheinlich ähnlich wie vor dem Bau der Tempel. Mein Gefühl ist, dass die zerstörten Tempel von den Tanzkreisen der Frauen ersetzt wurden, die sofort eine Art von temporärem und tragbarem heiligen Raum bilden. Um aus meinem kürzlich erschienenen Artikel Sacred Dance und traditionelle Frauentänze: Mysterienschule der Frauen zu zitieren: Als die patriarchalen Mächte die Zerstörung der Tempel befahlen, verschwand die alte Kultur der Göttin nicht: sie ging in den Untergrund, zu ihrer eigenen Sicherheit kodiert in nonverbalen Mustern und über Jahrhunderte des Patriarchats weitergegeben. Frauen entwickelten eine geheime Sprache der Textilmotive im Weben und Sticken, auf ihren Trachten und Ritualtüchern, deren Wurzeln ins Neolithikum zurückreichen. Diese Muster sind ein offenes Geheimnis, entdeckt und umarmt von denen, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören, und grosszügig geben sie ihre Weisheit selbst denen, die aus einer anderen Kultur und einem anderen Zeitalter kommen.
 

Die Beweise zeigen, dass Tanz in den Zeremonien in Delphi und anderen Heiligtümern einen zentralen Platz einnahm. Meine eigene Forschung zeigt auf, wie die Tänze selbst eine Kontinuität der Motive aufweisen, die in ihrer ungebrochenen Wiederholung bestimmter Muster von der Vorgeschichte bis heute auch, wie ich meine, auf eine Kontinuität der bewusst weitergegebenen Bedeutung hinweisen.

 
 

Ein letzter Hinweis zu unserem Geheimnis findet sich in den Präzepten des Apollo, die über dem Eingang zum Tempelgelände in Delphi zu lesen sind: ‘Erkenne Dich Selbst’ und ‘Nichts Im Übermaß’. Diese Richtlinien treffen auf die Kunst des Tanzens genauso zu wie auf die Kunst des Lebens und sind heute genauso gültig wie vor 2500 Jahren. Sogar umso mehr, würde ich sagen, da diese einfachen Lehren uns den Schlüssel zu einem nachhaltigen und verantwortlichen Leben geben, Fähigkeiten, die wir neu aktivieren müssen – und das schnell – wenn wir wollen, dass unsere spirituelle Geschichte soweit in die Zukunft weiterführt, wie sie in die Vergangenheit zurückreicht. 

Mit freundlicher Genehmigung von Laura Shannon.

Tanzgattung