«Das Leben am Saum des grossen Waldes»

Jahreszyklen und Lebensalter
Nach Aufzeichnungen von Seminaren mit Māra
Mellēna

Das harmonische Zusammenwirken von Dievs,
Māra und Laima sichert den Bestand der Welt. Sichtbares Symbol für die Zyklen des Lebens
in
ihrem Wandel ist der Sonnenweg im
Jahr mit dem Wechsel der
Länge von Tagen und Nächten. Der Mensch sah deshalb
seine Aufgabe darin, im Einklang mit den stabilen wie wech-
selhaften und als
göttlich verehrten Naturerscheinungen zu leben. So war auch das Leben der bäuerlichen Familien ganz
von der Natur und dem jahreszeitlichen Kalender bestimmt. Die
dem Jahreskreis entsprechenden Riten sind heute nur noch  bruchstückhaft
 erhalten  in einer Mischung aus
vorchristlich-altlettischen und christlichen Elementen.

In den dramatischen Darstellungen zu den Jahresfesten erschienen die personi- fizierten himmlischen Wesen, brachten Gaben für alle und wurden gleichermassen von den Festteilnehmern beschenkt,
um sich ihren Segen zu sichern. Die mit dem Jahreskalender verbundenen Lichtgottheiten erschienen über einem Hügel
als irdisches Bild für den Himmelsberg,
von dem sie herabgestiegen waren. Nach und nach verkörperten sie
immer mehr menschliche Eigenschaften
und
kamen diesen zu den Festzeiten besonders nahe. Fruchtbarkeit, die Erneuerung des Glücks und ein langes Leben standen im Mittel- punkt der Feierlichkeiten und der jeweils spezifischen Riten.
Bild: Lettischer Bauernkalender

Das durch
 den  Sonnenweg vier- bzw.
achtgeteilte Jahr, das sich auf der Basis der
Länge von Tagen und Nächten gestaltet,
bestimmte die Zeiten des
Arbeits- und Festkalenders:

  1. Lieldiena
     – Frühjahrs-Tag- und Nacht- gleiche (heute auch: Ostern),
  2. Ūsiņš – bezeichnet den Sommerbe- ginn,
  3. Jāņi (Johanni) – Sommer-Sonnenwen- de,
  4. Māras – bezeichnet den Übergang zum Herbst,
  5. Miķeļi (Michaeli) – Herbst-Tag- und Nachtgleiche,
  6. Mārtiņi – bezeichnet den Übergang zum Winter,
  7. Ziemassvētki – Winter-Sonnenwende (heute auch: Weihnachten),
  8. Meteņi – bezeichnet den Übergang zum Frühjahr.

Die spezifischen Rituale und Bräuche zu
den
betreffenden Jahreszeiten entsprachen der Einsicht,
dass durch menschliche schöpferische Tätigkeit dem Kosmos Energie zurückgegeben wird.

Das Jahr begann mit dem «grossen Tag» – Lieldiena –, der  etwa mit  der Frühjahrs-Tag- und Nachtgleiche zusammenfällt. Drei Tage lang feierte man «die grossen Töchter der Erde» als die länger werdenden Tage, die dem Licht verhelfen, über die Dunkelheit zu siegen.

Das Frühjahr war die Zeit des «Zueinander-Singens», besonders der
jungen Mädchen im heiratsfähigen Alter. Lieder über die Liebe, über Jugend und Glück wurden in der Abendstille auf den Anhöhen in der Landschaft gesungen, so dass man sie wie die Vögel als Frühjahrsboten weithin hören konnte:

Pavasara vakarā Uz zaļā pakalniņa,
Pirmo reizi dziedāt gāju,
Savu balsi vēdināt.

Am Frühjahrsabend stieg ich Den grünen Hügel hinauf, Ein erstes Mal zu singen,Zu hören in der Weite meiner Stimme Klang.

Der besondere Ritus zum Frühjahrsbeginn war das Schaukeln – analog der Überlieferung, dass die Wiege von Dievs zu Lieldiena aufgehängt wurde. Gleichmässiges, rhythmisches  Schaukeln auf
einer an einem Baum aufgehängten und besonders vorbereiteten und geschmückten
Schaukel sicherte die Fruchtbarkeit der jungen Leute und das gute Gedeihen der Ernte:

Kas kait man nedzīvot
Diža meža maliņā:
Pieci brieži man arami, Sešas stirnas ecējamas.

Ach, wie schön
ist doch das Leben Hier am Saum des grossen Waldes – Mit fünf Hirschen kann ich pflügen, Mit sechs Rehen kann ich eggen.


Bilder: Lettische
Briefmarken mit Brauchtumsspielen.

Oben: Der Sprung über das Feuer zu
Jāņi.

Unten: Schaukeln und Tanz zu Lieldiena.

Seit der christliche Kalender im Baltikum eingeführt wurde, überschneiden sich die Festzeiten und vermischten sich.
Es ist auch die Osterzeit, wo man sich vor Sonnenaufgang mit Quell- oder Flusswasser wusch – idealerweise in einem nach  Osten  fliessenden Gewässer, um dann die aufgehende Sonne mit Liedern
zu begrüssen. Eier, die Sonne symbolisierend, wurden vom Hügel hinuntergerollt und das Festessen bot viel Gebackenes
mit runden Formen.

Die traditionelle Welt der Familie ist mit
einem Baum vergleichbar. Die Geburt eines Kindes wurde erlebt wie die Auf- nahme
der Höhe – des
Himmels – von der Tiefe, d. h. von der Erde und  der Familie, dem Stamm des Baumes.
Eine Geburt verband die
beiden Welten, und man glaubte daher, dass auch alle Götter bei
den
Ritualfeiern präsent waren. Zur Geburt versammelte sich die Grossfamilie und
sass ganz eng beieinander, während
die eigentliche
Geburt im separaten Ba- dehaus stattfand, dem heiligsten Ort auf
dem
Gehöft. Den Pfad dorthin  galt es immer frei
und
gejätet
zu
halten, damit Laima, die Schicksalsgöttin,
sich
unge- hindert nähern konnte.

Die im Badehaus abgehaltenen Rituale verstand man als «Geburts-Schlüssel»,
ihre Ausführung  war die Aufgabe der Frauen. Zur Geburt wurde für den Jungen eine Eiche, für das Mädchen eine Linde gepflanzt.

Eine wichtige
Entscheidung war die Patenwahl, da man davon ausging,
dass die Qualitäten der Paten auf die Kinder übergehen würden:

Lasītus ļautiņus kūmām ņēmu, Kas var uguni saujā nest.

Ich habe mir einen Paten gewählt, Der das
Feuer in der offenen Hand tragen kann.

Erst mit der Namensgebung verband sich die Seele des Menschen mit dem Körper,
und das Schicksal des Kindes wurde mit
der Begleitung
gesungener Glückwünsche
durch das rhythmische Wiegen in den Armen aller Paten sowie der Eltern durch einen Tanzumgang bekräftigt:

Jūs, kūmiņas, neziniet
Kur pādīte radījās:
No
debess nolaidās Ar sudraba ķēdītēm.

Sagt, ihr Paten, ob ihr wisst
Wie das Taufkind ward geboren:
Von dem Himmel liess es sich Nieder an den
Silberketten.

In den frühesten Zeiten wählte man für die Neugeborenen  Namen  von kosmischen Kräften, von Vögeln und Bäumen.
Die Mutter bestimmte den Namen des Mädchens, der Vater den des Jungen, wie auch die Väter die Jungen und die Mütter die Mädchen erzogen. Aufgabe
der Paten war es,
ihr
Wissen und ihre Erfahrung dem Kind in den folgenden Lebensab- schnitten  weiterzugeben. Der gewebte
Gürtel für das
Neugeborene enthielt alle
Symbolzeichen der Sippe, der Region und
zudem einige spezifische für
das Kind.

Für die Wiege, die mit den verschiedensten Glück
bringenden und das Schlechte abwehrenden  Gaben  gefüllt wurde, schlug man einen Baum, meistens eine
Birke.

 

 

 

 

Bild: Dachgiebel eines Hauses aus Kurland,
Freilichtmuseum, Rīga

 

Nach dem Sprung über die
Schwelle
trug
man das Kind vom Badehaus – dem Ort des Wassers
– zum Ort des Feuers
und 
legte es hinter
 den Ofen als dem Platz, wo
nach
altem Glauben Diesseits und  Jenseits zusammenkamen.
 Es war auch der Platz der Schicksalsgöttin Laima, der Ahnengeister (Veļi) sowie der Sitz der Alten in der Familie. Dem Frühjahrs- und Pferdegott Ūsiņš war die Zeit
vor
der Sommersonnenwende heilig. Er war der Gott der Pferde, die den kostbarsten Besitz eines Bauern ausmachten. Mythologisch hat Ūsiņš eine Verbindung  zur  vedischen Göttin
 Usha, der Morgenröte, und zu dem Zwillingsgestirn der Asvins.
Egils Rozenbergs, «Nachtwache bei den Pferden», Gobelin, Rīga 1983, Collection of DMDM
Im Jahreskalender bezeichnet
Ūsiņš die
Zeit, in der die Pferde tagsüber erstmals vom Stall auf die Weide geführt werden. An warmen Nächten liess man die Pferde auf der Weide und versammelte
sich ums Feuer um zu feiern, zu singen
und tanzen.

Das populärste und immer noch landesweit am meisten gefeierte Fest Jāņi, die
Sommersonnenwende,  bezeichnet den Höchststand  der Sonne. Zu Ehren des Gottessohnes Jānis werden bei seiner An- kunft die Hörner geblasen und Trommeln geschlagen, denn es ist die Hochzeit von Himmel und Erde.
Immer wieder
wird der typische Refrain «līgo» gesungen.

Jānis wird als gut gewachsener junger Mann dargestellt, geschmückt mit einem Kranz  aus Eichenlaub. Hoch  zu Ross kommt  er dahergeritten  in Begleitung seiner wunderschönen
Frau und ihrer beider Kinder.

Besonders gefeiert wird das Lichtfest Jāņi
mit der Errichtung eines langen Baumstammes auf einem Kulthügel. Spiralförmig ist der Stamm mit Eichenlaub umwickelt und gleicht so einer Himmelsleiter, auf deren Spitze mit Einbruch der Nacht ein Feuer entzündet 
wird. An diesem Abend, so glaubte man, führt Jānis selbst den Tanz an.

Ausgelassen wird die Nacht hindurch gefeiert, mit Tanz um den Lebensbaum und später um ein hoch aufgeschichtetes
Feuer, über das man auch springt, damit das Leben fruchtbar bleibt, denn das
Jānis-Feuer reinigt, fördert Gesundheit, Frohsinn  und  alles Gute und vertreibt das Böse.

Als Jānis-Kinder ziehen
Gruppen zu den Nachbargehöften, zu
Freunden und Verwandten, um immer mehr Feiernde einzusammeln. Die «Sonnwendmütter» servieren Käse und Brot, die «Sonnwendväter» das selbstgebraute Bier, die «Sonn- wendkinder» bringen allen Gästen mit ihren Liedern Glück für ein
ganzes Jahr.

Jeder der Gäste hat auch eigene Gaben mitgebracht, die
unter die Anwesenden verteilt
werden. Manch einer begibt
sich auch auf die Suche nach dem legendären Farnkraut, das nur während dieser Nacht blüht und Glück, Liebe
und
alle guten Dinge des Lebens verspricht, so man es denn  findet. Manche Partnersuche
 er- füllt sich in dieser Nacht, so dass dann im Herbst nach der Ernte geheiratet
werden kann.

Jāņa māte sieru sēja
Deviņiem(i) stūrīšiem; Šim stūrītis, tam stūrītis,
Man pašam viducītis.

Jānis-Mutter machte Käse Mit neun Ecken dran – Für den da ein Eckchen,und auch eins für jenen,Für mich darf es die Mitte sein.

Die Sonne wird am Abend mit Wiegenliedern bei ihrem Untergang begleitet und nach der kurzen Nacht zu ihrem Aufgang wieder
begrüsst:

Es redzēju Jāņu nakti Trīs saulītes uzlecam: Viena zelta, otra vara,
Trešā tīra sidrabiņa.

Hab drei Sonnen doch gesehen In der Jānis-Nacht aufgehen: Eine golden, eine kupfern Und aus Silber war die dritte.

Den Kräutern, die während des Höchststands  der  Sonne gesammelt wurden, sprach man besondere Heilkraft zu. AlleGehöfte mit ihren verschiedenen Arbeitsbereichen wie Brunnen, Mühle und Stall und
auch der Wohnbereich wurden mit
den Kräutern für das allgemeine
Wohlbefinden und für gutes Gedeihen während des folgenden Jahres geschmückt.

Im Frühjahr  war das bäuerliche Leben angefüllt gewesen
durch die notwendigen Arbeiten, die mit dem Erwachen der Natur zu tun haben: Pflügen, Säen und Jäten
wurden vor der Sonnenwende er- ledigt, danach – in den kurzen Sommer- monaten – stand die Heumahd und Ernte an. Wie in den meisten Dainas, die sich auf die Natur beziehen, wird diese
da- durch verklärt, dass sich der Dichter seelisch mit seiner Umwelt verbunden fühlt:

Ej, brālīti, miežu sēt,
Es nesīšu sētuvīti;
Tev dziedāja zelta zīle, Man sudraba lakstīgala.

Gehe, Bruder, Gerste säen,
Ich will dir den Saatkorb tragen,
Dir
singt eine goldene Meise
,
Mir die Silbernachtigall.

Nach der Ernte, zu Herbstanfang, wird zu Ehren der Erdmutter  der Māra-Tag gefeiert – mit einem Mahl, das aus den Zutaten der neuen Ernte zubereitet wird.

Miķeļi ist das Fest
der
Herbst-Tag- und Nachtgleiche, zum  Eintritt
 der  Sonne in das Sternbild Waage. Die Dainas
be- schreiben diesen Gottessohn  als einen gutsituierten Mann mit einer
reichen Frau. Zu Miķeļi muss die ganze Ernte eingebracht und auch
der Garten abgeerntet sein, denn danach sind «die Tore zum Winter geöffnet».

Miķeļi ist die Zeit des Einfangens von Jumis,
einem Feldgeist und Sinnbild der Fruchtbarkeit, der durch die Doppelähre und alle paarweise wachsenden Früchte symbolisiert wird. Man liess ein
Garben- bündel auf dem Feld zurück, befestigte
es mit einem Stein, rieb dann das Korn heraus und begrub es in der Erde, damit der Korngeist
im kommenden Jahr wieder auferstehen würde. Auch flocht man Kornkränze und brachte der
Herrin des Hofes die letzte Garbe, die sie bis zur nächsten Aussaat auf einem Ehrenplatz aufbewahrte.

Die Feierlichkeiten erstreckten sich über
 drei  Tage mit
 einem 
Feuer, mit Gesang und  Tanz, frisch gebackenem Brot und der Fülle
dessen, was geerntet worden war. Am letzten Tag des Festes brachte man den Ertrag der Ernte auf den Markt. Nach altem Brauch war
es auch der letzte Tag, an dem ein Freier ein Heiratsangebot machen konnte,
was nicht immer hiess, dass er die Gunst des Mädchens erwerben würde:

Lepna, lepna tā meitiņa, Ne tā
dzied, ne runā.

Tā ar savu lepnumiņu

Sēdēs ilgi vainagā.

Stolz, so stolz ist dieses Mädchen,

singt nicht und sie spricht auch nicht –

wegen ihres Stolzes wird sie

wohl kaum jemanden nehmen wollen.

Ein anderer Heiratswilliger hatte mehr Glück. Er bereitet sich auf den Hausbau vor, doch sein eigenes Glück weiss
er verbunden mit dem Schmerz, den er der Natur zufügen wird. Durch Teilhabe an seinem Glück sucht er zu trösten:

Gauži raud sila priede, Redzēj’ mani cirst ejam. Neraud gauži, sila priede, Neb’ es tevi skaliem cirtu,
Cirt’ istabas pamatiem, Jaukas dziesmas klausīties.

Bitter weint im Wald die Föhre, Sieht die Axt in meiner Hand. Sollst nicht bitter weinen, Föhre, Nicht für Spanholz fäll ich dich –
Zimmern werde ich ein Haus,
Schöne Lieder drin zu hören.


Die Heirat fand immer schon vor dem zwanzigsten
Lebensjahr der Brautleute im Festkreis
des
Jahres statt, nach dem Einbringen der Ernte im Herbst.

Das Mädchen ist dann zum Heiraten bereit, wenn die Truhe für ihre Mitgift voll ist und die Geschenke für die Hochzeitsgäste
bereitliegen. Im Besonderen wurden Fäustlinge oder Handschuhe mit
Symbolzeichen
als
Glücksbringer zum Gelingen aller Handlungen verschenkt.

Bild: Handschuh aus Lettgallen, 20. Jhdt.

Kad es iešu tautiņās, Krūmiņiem ziedu došu: Liepai došu raibus cimdus,
Ozolam kreklu kāršu, Mazajam kārkliņam Maukšu zelta gredzentiņu.

Gibt man mich einst dem Bräutigam, So bringe ich Gaben den Müttern des Waldes:

Der Linde gemusterte Fäustlinge, Der Eiche ein Hemd, Und an die Zweige der
kleinen Weide Hänge ich einen Kupferring.

War ein junger Mann zum Heiraten bereit, blies er in
ein Horn aus Birkenrinde,
so dass der Klang weithin vernehmbar war. Bis dann musste er auch seine Fähigkeiten erprobt haben, die alltäglichen
Bauernarbeiten ausführen zu können.

Traditionell wurde das Paar verheiratet – in früheren  Zeiten gab es auch die Tradition des
Brautraubes – eine freie Brautwahl gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Der Sinn des
dreitägigen Hochzeitsrituals war die symbolische Vereinigung von Vater Himmel und Mutter Erde, die einer Neuschöpfung der Welt
durch das
junge
Paar gleichkam.

Für das Mädchen galt es
drei Dinge besonders zu beachten: das Bewahren der Reinheit der Haube, die sie mit der Abnahme
ihres Brautkranzes erhalten hatte (Tanz Nr. 7), ihren Mann zu lieben und das Haus gut zu führen. Zum Vertragsabschluss
reichten sich die einander gegenüber sitzenden Familien die
Hände über der Flamme,
die
in der Mitte des Tisches brannte.

Bei den Hochzeitsritualen waren besonders die Braut,
aber auch der Bräutigam nur Statisten, denn alle Handlungen wurden von den Angehörigen ausgeführt – wie das rituelle  Einkleiden  der
 Braut oder das Gestalten des
Abschiedsrituals für
die Braut, die spät nachts in das Heim des Bräutigams geleitet wurde.

Den Hochzeitsreigen der Familien tanzte man in zwei gegenläufigen Kreisen, gefolgt
von
einem Paartanz mit einem Partner aus dem jeweils anderen Kreis. Dabei hakte man sich ein und verkrallte
die beiden freien Hände miteinander, um sich so mit dem fremden Tanzpartner erst in die eine, dann –
nach einem schnellen
Armwechsel – in die andere Richtung zu drehen.

Dejat, brāļi, zābakiem, Lai trīc tautu istabiņa; Sitat, māsas, plaukstiņām, Lai skan griezti gredzentiņi.

Tanzt in Stiefeln, liebe Brüder, Dass die Stube dröhnt. Klatscht in die Hände, liebe Schwestern, Dass eure Ringlein klirren.

Den Paten des Bräutigams oblag es, Schutzzeichen in Türen, Pfosten und Schwellen zu ritzen, während die Braut an ihren neuen Wirkungsorten –
wie der
Wasserquelle, der Feuerstelle und  dem Badehaus – ein gewebtes Bändchen opferte, wodurch sie sich symbolisch mit ihnen verband.

In der im Jahreslauf folgenden Mārtiņš- Zeit wurden die notwendigen Vorbereitungen für den Winter getroffen. Dieser Jahresabschnitt
 beinhaltet
 noch  einen erweiterten Erntedank und den Beginn der
Maskenspiele. Diese
finden in ihren unterschiedlichen Ausgestaltungen
statt bis zum Vorfrühling – Meteņi – und dem Aschermittwoch.

Mārtiņš ist im Jahreskreis der Gegenpol zu Ūsiņš und
gilt als der winterliche
Patron der Pferde. Durch  christlichen Einfluss wurde Mārtiņš zum schützenden, hilfreichen Begleiter.

Eine lettische Besonderheit ist die Wandlung der Masken von Oktober bis Februar, wenn sie die Gehöfte besuchen und allerlei Schabernack treiben:

Während der Herbstmonate, wenn die Sonne immer mehr an Kraft verliert, die
Erde kalt und starr wird und die Landschaft sich in Nebel hüllt, erscheinen die Masken der Spiele als unbewegliche, alte Totengesichter.

Zum Winterfest Ziemassvētki, in der Weihnachtszeit, verwandeln sich die Maskenfiguren in fröhlich agierende Tiergestalten und in Karikaturen von
Gestalten
des traditionellen Alltags.

Bild: Lilita Postaža, «Mummenschanz», Gobelin, Rīga 1983, Collection of DMDM

Im Vorfrühling, zur
Fastenzeit
schliesslich, als der Zeit des Wiedererstarkens des Lichts, schmücken sich die Maskenträger hauptsächlich mit hohen,
lichtdurchlässigen Strohmasken.
Stroh ist das Sinnbild für Vergangenes,
durch welches neues Leben sich den Weg bahnt.

Divejāda Saule tek, Tek kalnā, tek lejā; (Divejāds mans mūžiņš
Ar to vienu dvēselīti.)

Zweierlei ist der Weg der Sonne –
Bergauf, bergab …

Eine Zusammenschau  archäologischer Funde und Inhalte der Dainas erschliesst uns Informationen zu den Sterberitualen der alten Letten.

Der Mensch wurde betrachtet als eine
Einheit aus materiellem Körper, Seele und Velis, d. h. der Substanz, die in ihm einen subtilen Körper aus
den
Qualitäten der Planetensphären geformt hatte, durch die er gereist
war,
um auf der Erde geboren zu werden.

Dievs, der Gott des Anbeginns, verleiht dem Menschen die Seele und nimmt sie mit dessen Ableben wieder zu sich. Māra,
die Erdmutter, kümmert sich um den materiellen Körper des
Verstorbenen und ist in ihrem Aspekt als Schattenmutter (Veļu māte) verantwortlich für den «Astralleib» des Verstorbenen (Tanz Nr. 16).

Von den drei Lebensformen, die
der Mensch in sich vereint hatte, lebt Velis weiter in einem Spiegeldasein seines Erdenlebens, so dass
ihm
mitgegebene Grabbeigaben den Weg und das Leben in der «anderen Welt» erleichtern und angenehm
gestalten sollten.

Es
gab traditionell auch ein Veļu laiks,ein Fest, das man jährlich im Herbst feierte,
zu dem die Veļi, die Geister der Ahnen, eingeladen wurden. Noch ein Jahr lang deckte man für den Verstorbenen jeweils einen Platz am Tisch mit.

Seit etwa
4000 v. Chr. kann man im Baltikum auf Familien-Hügelgräber verweisen –
die Toten wurden im als heilig verehrten Feuer verbrannt.  Erst mit der Verbreitung des Christentums  setzten sich tief
in die Erde eingelassene Einzelgräber
durch, in denen man die Toten «in geweihter Erde» bestattete. Der Sarg wurde
mit Farnblättern ausgelegt, dem Symbol für
Unsterblichkeit, und bis zum 17. Jahrhundert gibt es darüber hinaus Hinweise, dass
man das Grab mit Feuer anwärmte.

Viele Rituale und Bräuche begleiteten das Sterben. Auch diese letzten
Feierlichkeiten
im Zyklus des Lebens dauerten  bis zu drei Tage und Nächte. Während der
Totenwache sang man Lieder, die an den Toten erinnerten, den man als
Velis präsent
wusste.

Bild. Sandsteinhöhle und prähistorische Grabstelle, Nähe Kvēpene

 

Mit nächtlichen Tanzspielen löschte
man
die irdischen Spuren des Verstorbenen, wie man auch auf dem Hof seine Spuren tilgte,
so
dass er frei würde für sein neues Leben und die Lebenden nicht wegen Noch-nicht-Aufgelöstem belästigen würde.

Nicht nur traurig, vielmehr fröhlich sollte das Andenken an den Verstorbenen sein, das ihm mit Gesang
und
Tanz den Abschied von dieser Welt erleichtern
würde:

Dod, Dieviņ, tā nomirt, Kā nomira tēvs, māmiņa: Tēvs klonā kuldams mira, (Tēvs nomira dziedādams) Māte maizi mīcīdama. (Dziedot mira māmuliņa)

Gebe Gott mir so zu sterben, Wie mir Vater, Mutter starben: Vater auf der Tenne dreschend (oder: Vater ist gestorben singend),
Mutter knetend Teig fürs Brot (oder: Singend starb das Mütterlein).

Der physische Tod wurde nur als
Übergang in eine andere Lebenswelt
erfahren. Und da man alle Lebensformen als gleichberechtigt erachtete und  an eine Wiedergeburt der Seele glaubte, konnte man sich auch ein neues Leben in einer beliebigen Gestalt der Natur vorstellen.

Neben Jāņi ist das Fest der Wintersonnenwende – Ziemassvētki – das bedeutendste der Jahresfeste. Gefeiert wird das neue Licht,
die Geburt Gottes. Für das Ankommen von Dievs wird ein Ehrenplatz am Tisch gerichtet, und alle Anwesenden erwartet ein grosses Festmahl.

Lieder der Jahreszeit mit dem typischen Refrain «kaladū» werden gesungen, Gruppen fröhlicher Masken kommen zu Besuch, die als Vertreter des Schattenreiches Glück bringen und mit Geschenken bedacht werden.

Ein alter Baumstumpf wird im Hof herumgezogen,  das
 Symbol des  alten Jahres mit seinen Problemen und Missgeschicken. Zum Schluss wird er im Feuer
verbrannt.

Bild: Leben und Sterben–
die Göttin als Lebensbaum. Zīmes-Motiv aus Alsunga

Zum  Jahresende 
wurden  die traditionellen  Puzurs gefertigt –  Pyramidenstrukturen
 aus Strohhalmen als Modell der Welt –, die man wie
ein
Mobile als Glückssymbol jeweils neu in der Mitte der Stube aufhängte. Sie bestehen aus einer oberen Pyramide – der Welt
des Himmels  –, die ihre
 Entsprechung
in einer unteren Pyramide – der irdischen Welt – hat. Beide Pyramiden haben eine
gemeinsame Basis.

Diese Verbindung eines Quadrats mit
Dreiecksstrukturen durchzieht durch alle Halme ein einziger Faden. Als das «Wesen» der Struktur ist er beweglich
und lebendig. Das
leichte Gebilde ist in ständiger Bewegung – und auch die Welt des neuen
Jahres wird nur in der Bewegung
bestehen können.

 

Auszug aus dem Buch: Maria-Gabriele Wosien, Feuerspuren - Lettische Tanzrituale und Symbole; © 2009 Metanoia-Verlag, CH Bergdietikon. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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