Indem Verbundenheit und Kontinuität betont werden, das Nach Hause kommen und die Unterstützung, können die Ritualtänze der Frauen alte Werte wie Nachhaltigkeit, Empathie und Gleichheit wiederbeleben, und damit ein Gegenmittel zu der Entfremdung des Selbst bereitstellen, die in der westlichen Welt epidemisch geworden ist.

Frauentänze sind auch bestimmt von Aspekten der Frauenarbeit und Kultur, die mit der Tanzerfahrung der Frauen verwoben sind. Die Traditionen dieser Frauen drücken die egalitären, kooperativen und friedvollen Werte von Gesellschaften aus, die tief mit dem Land verbunden sind. Diese Qualitäten, nämlich Verbindung, Gleichheit, Inklusivität, Gleichgewicht, Nachhaltigkeit, Empathie und Gegenseitigkeit, sind die Prinzipien der Partnerschaft, wie sie von Riane Eisler benannt werden, und sie sind genauso die Werte der matrifokalen Göttinkultur des Alten Europa, wie sie von Marija Gimbutas dargestellt werden. (1)

Die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen

Die Tänze sind keine Aufführung, alle Anwesenden nehmen teil. In der Abwesenheit eines Blickes von aussen richtet sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Sorge, wie wir aussehen und was andere denken mögen, und mehr auf ein konzentriertes Wahrnehmen unseres inneren Seins. Paradoxerweise kann gerade diese Aufmerksamkeit nach innen uns dabei helfen, uns mit etwas zu verbinden, das grösser ist als wir, einem Gefühl des Einsseins mit allem Leben.

Die Tänze unterstützen eine Atmosphäre der Akzeptanz, in der jede Erfahrung den gleichen Wert und ihren eigenen Platz im Ganzen hat.

Im rituellen Tanz sind die individuellen Charakteristika der gleich gekleideten Frauen ausgeblendet. Ich vermute, dass dies den Frauen als Hilfe dient, die Begrenzungen der Persönlichkeit zu überschreiten und bei rituellen Anlässen als archetypische Verkörperung des Weiblichen aufzutreten. In meiner Sichtweise können rituelle Tänze eine Erfahrung von sowohl Transzendenz als auch Immanenz hervorrufen: die Tänzerinnen werden sich des in ihnen verkörperten göttlichen Weiblichen bewusst, einer Kraft soviel grösser als sie selbst, an der aber sie untrennbar teilhaben.

Beziehung zwischen Tracht und Tanz

Stickborte

Die Beziehung zwischen Tracht und Tanz wird betont in dem verbreiteten Stickmotiv, dass in Bulgarien als horo oder Tanz bekannt ist. Das Muster zeigt eine Reihe identischer Frauenfiguren in Handfassung und ist ein Spiegel der identisch gekleideten Frauen der Tanzreihe. Textilforscherin Sheila Payne identifiziert solche gestickten weiblichen Figuren als “der-Göttin-abstammend”, die wie das horo-Motiv in sich wiederholenden symmetrischen Mustern auftreten oder selber eine symmetrische Haltung mit auf die Mitte zentrierter Ritualhaltung zeigen. (2)

Durch das Annehmen dieser Attribute sind die Tänzerinnen in der Lage, ihre Individualität zu transzendieren und in einen Zustand zu treten, der “der-Göttin-abstammend” ist. Iris Stewart weist darauf hin, dass dies seit alter Zeit die Rolle der Priesterin gewesen ist, die Ritualtracht, Schmuck und Kopfschmuck einsetzt, um über ihre persönliche Identität hinauszugehen und eine größere Macht zu verkörpern. (3)

Die Weitergabe von Ritualtänzen

Daher schlage ich vor, dass die Ritualtänze der Frauen in ihrer strengen Disziplin, ihrer Weitergabe, ihrem Gebrauch von Symbolen und ihrer Aktivierung innerer Energie als eine uralte Form von körperlichem und spirituellem Training verstanden werden können. Das egalitäre Teilen der Leitungsrolle stellt sicher, dass die Leitung im Tanz nicht zu kodifizierten Rollen von Macht und Rank in der Gesellschaft selbst führt. Die egalitäre Qualität der Partnerschaft ist ein zentraler Aspekt der Ritualtänze der Frauen, und ein Schlüsselwert der Kultur der Göttin. (4)

TrankopferschaleWenn alle Frauen gleich gekleidet sind, sichert ihre Tracht einen einheitlichen Tanzstil und schafft ein zusammenhängendes Bild, das die Harmonie ihrer gemeinsamen Bewegung noch verstärkt. Der Kreis der identisch gekleideten Frauen spiegelt die Reihen der strahlend tanzenden Göttinnen, die auf ihre Trachten gestickt sind und die universelle Energie des göttlichen Weiblichen heraufbeschwören, die über die individuelle Identität hinausführt.

Neuere Forschungen zu den Nervenfunktionen von Frauen zeigt, dass das Spiegeln von Gesten, Körperhaltung und Gesichtsausdruck für Frauen ein Weg dazu ist, herauszufinden, was andere fühlen, indem körperliche Empfindungen eine Bedeutung an bestimmte Teile des Gehirns übermitteln. Neurowissenschaftler haben entdeckt, dass die Fähigkeiten der Empathie, Beobachtung und des Spiegelns dem weiblichen Hirn leichter fallen. Dies ist die physiologische Grundlage der weiblichen Intuition. (5)

Das gemeinsame Tanzen schafft so einen gemeinsamen Zustand emotionaler Kongruenz und gegenseitigen Verstehens. Das Kollektiv profitiert davon, indem ein System gegenseitiger Empathie und Unterstützung geschaffen wird, das unter regelmäßig gemeinsam tanzenden Frauen ständig aufgefrischt und gestärkt wird. Für Frauen in den Balkankulturen war es eine soziale Verpflichtung, zusammen zu tanzen und damit zu sichern, dass die Wiederholung von einheitlicher Bewegung und Tanzstil automatisch auch das Gefühl von Gemeinschaft und sozialer Harmonie stärkt.

Lernen im Kreis

Im Kreis lernen wir Tänze von Frauen, die sie in einem Kreis gelernt haben von anderen, die sie wiederum in einem Kreis gelernt haben, und so weiter durch die Zeit, was bedeutet, dass die in den Tänzen erfahrenen kinestäthischen Muster in einer über hunderte oder vielleicht tausende von Jahren ungebrochenen Linie durch bewegte Füsse, sehende Augen und gefasste Hände weitergegeben worden sind. Ich glaube, dass die gemeinsame körperliche und neuromuskuläre Erfahrung des Kreistanzens ein Mechanismus ist, der über viele Tanzgenerationen hinweg die Weitergabe nonverbaler Information ermöglicht. 

Tanzende Frauen

Während die Dorftänze im Balkan dazu dienten, kulturelle Werte wie Gemeinschaft, Solidarität und Vernetztheit zu unterstreichen, setzt die moderne westliche Kultur gegensätzliche Prioritäten, indem sie den meisten von uns ein überentwickeltes Gefühl von individueller Freiheit und Berechtigung gibt. Dies führt viele Frauen in der modernen Welt dazu, unter erdrückenden Gefühlen von Einsamkeit und Entfremdung zu leiden.

Marion Woodman stellt fest, dass moderne Frauen übermässig bewusst, intellektuell und kontrollierend sein können auf eine maskuline Art, die unsere Kultur sie zu kopieren lehrt, und sie hält uns dazu an, wieder zu lernen, wie wir uns hingeben können an das heilende Unbewusste als eine Quelle der Verbindung mit dem Zeitlosem, grösser als wir selbst. (6) Genau das erlaubt uns das Ritual des Tanzkreises in sicherem Raum, da die Tänze uns dabei helfen, uns miteinander zu verbinden, während wir gleichzeitig unsere eigene Einzigartigkeit und die der anderen feiern.

Der sichere Raum der Tanzerfahrung wird geschaffen durch den unterstützenden Raum des Kreises und die unveränderte Struktur von Tanzschritten und Stil. Einfache, sich wiederholende Bewegungen erinnern an die Universalität der menschlichen Erfahrung in Raum und Zeit. Der Tanzkreis beschwört den Kreis des Kosmos, universelles Symbol der Einheit und Ganzheitlichkeit, und dient als eine Art Mandala, das es jeder Tänzerin erlaubt, sich zu zentrieren, und gleichzeitig die verschiedenen Energien der einzelnen Tänzerinnen zu einem ausgewogenen Ganzen zusammenbringt. (7) Objektiv gesehen bleibt die Bewegung für alle Frauen dieselbe, während für jede Frau die subjektive Wahrnehmung des Tanzes und seiner für sie möglichen Bedeutung einzigartig bleibt. (8)

Wir sind eingeladen, alle Teile unserer selbst mitzubringen, Akzeptanz zu erleben und zu geben, in unserer Ganzheit von anderen gesehen zu werden, in einem sicheren Rahmen. Dies öffnet uns für eine tiefe Erfahrung der Liebe, die Blockierungen der Vergangenheit auflösen und einen Fluss der Empfindung freisetzen kann, mit allem Leben eins zu sein. Dies ist die Botschaft der Tänze, das Gebiet, in das sie uns zurückführen. So geben sie uns die Möglichkeit, wie Woodman es beschreibt, das Licht des Bewusstseins in die Materie des göttlichen Weiblichen zu bringen, und auf zutiefst heilende Weise Körper und Seele ins Gleichgewicht zu bringen.

Aus der Vergangenheit für die Zukunft

In der Vergangenheit tanzten Frauen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien und Gemeinden sicherzustellen; heute geht es um das Überleben der Erde und aller lebenden Wesen. Heute brauchen wir die Fähigkeiten, die uns die Tänze zu entwickeln helfen, nicht nur im Dienst unserer eigenen Transformation, sondern auch für die kollektive Rückkehr zu Sicherheit und Frieden. Die Ritualtänze der Frauen können uns dabei helfen, uns voller Freude wieder mit der lebensbejahenden Weltsicht zu verbinden, die im Herzen der ursprünglichen Kultur des Alten Europa steht, und die wir uns jetzt in der modernen Welt wieder aneignen müssen, wenn der Planet und alle, die auf ihm leben, für zukünftige Generationen überleben sollen.

Auszug aus 'Women’s Ritual Dances: An Ancient Source of Healing in Our Times' von Laura Shannon in Dancing on the Earth: Women’s Stories of Healing Through Dance. Eds. Johanna Leseho und Sandra McMaster, © 2011 Findhorn Press.

 

Bildunterschriften:

Zur Stickbordüre: 'Eine Reihe von gestickten weiblichen Figuren in sich wiederholenden symmetrischen Mustern heisst 'Tanz'- oder 'horo'-Motiv.' Schürzenrand aus Razgrad, Bulgarien, 19. Jh. BG (Foto: Laura Shannon)

Zur Trankopferschale: 'Die Tanzmuster sind in einer über tausende von Jahren ungebrochenen Linie durch bewegte Füsse, sehende Augen und gefasste Hände weitergegeben worden.' Trankopferschale (phiale) aus Attika, Griechenland, ca. 450 v. Chr.

Zum Foto: 'Der rituelle Tanzkreis ermöglicht es den Tänzerinnen, persönliche Grenzen zu überwinden und in einen transpersonalen Zustand einzutreten.'Tanzende Frauen von Chania, Kreta, ca. 1956. (Foto: Griechische Postkarte, öffentlicher Bereich)

 

Fussnoten:

1. Riane Eisler: The Chalice and the Blade: Our History, our Future. San Francisco: Harper&Row 1988; Gimbutas: The Goddesses and Gods, S. 9.

2. Sheila Paine: Embroidered Textiles. Zitiert von Kelly in Welters: Gods and Goddesses, S. 160.

3. Iris Stewart: Sacred Women, Sacred Dance. S. 38.

4. Siehe Gimbutas in Plaskow und Christ: Weaving the Visions. Mein Dank geht an Carol P. Christ für fruchtbare Unterhaltungen zum Thema der Leitungsposition der Frauen im Tanz versus der hierarchischen, männlich dominierten Meditationssysteme.

5. Louann Brizendine: The Female Brain. New York: Broadway Books 2006, S. 122. 

6. Marion Woodman: Conscious Femininity. S. 73.

7. Laura Shannon: 'Living Ritual Dance for Women: Journey out of Ancient Times'. In: American Dance Therapy Association 27th Annual Proceedings. Columbia, Maryland 1992.

8. Ich schulde die Entwicklung dieser Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv in meiner Arbeitsweise meinem siebenjährigen Training in Authentic Movement bei Janet Adler, und seinem Fokus auf die Unterscheidung, ohne Interpretation, der Wahrnehmungen des Bewegenden und des Zuschauenden.

Dieser Artikel wurde auch in '"Neue Kreise ziehen" Heft 1/2024 veröffentlicht.

Tanzgattung