Zu den Wurzeln
Dass Menschen den Tanz als heilende Kraft seit jeher genutzt haben ist allgemein bekannt. Viele tanztherapeutische Richtungen, die in den 1940er Jahren entstanden sind, wussten das heilende Element des bewussten Zugangs zu Bewegung mit Musik umzusetzen und als therapeutisches Werkzeug in die Welt zu bringen. Einfache primitive
Tänze unser VorfahrInnen sind die Wurzeln, Tanz als therapeutisches Medium einzusetzen. Tanztherapie im weitesten Sinn hat ihre Wurzeln in Heilungsritualtänzen.
Formen, die diese Tänze ursprünglich mit sich bringen, Schrittmuster und Haltung sind aus dem tanztherapeutischen Setting weitgehend verschwunden, dennoch besteht die lebendige Verbindung zu diesen Wurzeln. R. Lange spricht von:
"Es gibt eine sichtbare Verbindung der Kunst der primitiven Kulturen und der im Hier und Jetzt bestehenden." (1)
Erstaunlich ist, dass abgesehen von dieser Entwicklung der Wurzeln des Tanzes in Richtung Tanztherapie, „Ritual“tänze als solche weiterhin erhalten sind und ihre Heilkraft weiterlebt dadurch, dass sie getanzt werden. Es gibt sie seit Beginn der neolithischen Kultur im heutigen Griechenland. Davon zeugen archäologische Abbildungen von Tanzenden, meist sind es TänzerInnen, entweder allein, oder in Handfassung in Kreis oder Reihe in Verehrung der Erdenmutter (2) begleitet von Männern, die den Tanz musikalisch begleiten.
Was macht Kreistänze zu rituellen Tänzen?
Im Allgemeinen besteht ein Ritual aus einer Serie von Handlungen, die in einer vorgeschriebenen Reihenfolge ausgeführt werden, beziehungsweise geben sie Auskunft darüber, wer daran teilnehmen darf. Korrekte Abfolge der Ereignisse, sowie Menschen und Dinge an ihrem richtigen Platz sind Teil eines Rituals. Die Bestätigung der sozialen Ordnung bestätigt auch die kosmische Ordnung: wie oben, so auch unten.(3)
Durch die Ordnung des Kreises erfahren wir eine größere Ordnung.
Ein weiterer Aspekt, den das Tanzen überlieferter Tänze mit sich bringt, ist das Element des Erinnerns: wir erinnern uns, wenn wir tanzen, intuitiv unserer Wurzeln. Wir verbinden uns mit den Ahninnen, mit all den Frauen, die vor uns waren und diese Tänze über Jahrtausende getanzt haben. Es gibt keinerlei schriftliche Überlieferungen, wie die einzelnen Tänze getanzt werden: sie werden getanzt und dadurch weitergegeben. Und im Nachahmen und Aufnehmen der Muster über unseren Körper, verbinden wir uns mit den VorfahrInnen. Neurobiologisches Wissen über Spiegelneuronen gab es zu damals natürlich Zeiten nicht. Heute wissen wir, dass Weitergabe über Spiegelneuronen funktioniert. (4)
Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, beim Unterrichten möglichst diese Qualität im Auge zu behalten: Schritte über Nachahmung weiterzugeben und nicht über Erklärungen. Unser Körper hat ungeahnte Fähigkeiten zu erinnern und zu speichern. In den rituellen Frauentänzen geht es nicht um komplizierte Schritte: Einfache Tänze sind die, die am längsten überlebt haben. Warum? Weil Menschen ihre ordnende, heilende Wirkung zu nutzen wussten und in manchen Ländern Osteuropas nach wie vor nutzen. Menschen spüren, wenn ihnen etwas gut tut. Die Einfachheit der Schritte ermöglicht im
Tanzen eine innere Arbeit. Die Vorhersagbarkeit des Tuns im Ritual ermöglicht Freiraum, um sich auf „innere Arbeit“ zu konzentrieren.(3)
Meine Erfahrung im Tanzen der überlieferten Frauenritualtänze, die ich seit vielen Jahren an Frauen weitergebe, ist, dass erst wenn ich frei bin von der Suche nach Schritten, ein innerer Zugang zur Qualität des Tanzes erfahrbar werden kann. Indem wir tanzen, indem wir uns mit dieser „Ordnung“, die dem Tanz eigen ist, verbinden, erleben wir die dem Tanz innewohnende Qualität.
Diesem Gefühl von in uns zu Hause sein und Ankommen begegnen wir in den Tänzen.
Zwischen meinem 20. und 30. Lebensjahr kam ich erstmalig mit „Kreistänzen“ in Berührung. Ich war damals bereits ausgebildete Tanztherapeutin. Mir war damals noch nicht bewusst, wonach ich suchte, als ich meine erste Lehrerin Dr. Gabriele Wosien kennenlernte und bei ihr Unterricht in Sacred Dance nahm. Dieser Begriff wurde vor ca. 40 Jahren geprägt von Prof. Bernhard Wosien, der als Ballet-Tänzer, Ballettmeister und Choreograph ausgebildet war. Er hat sich sein Leben lang mit der Geschichte und Entwicklung des Tanzes und Tanztraditionen verschiedener Völker auseinandergesetzt. In den 1970er Jahren brachte er Sacred Dance nach Findhorn, eine spirituelle Gemeinschaft im Norden von Schottland, von wo aus es sich in viele Länder der Welt verbreitete. Parallel dazu wurde seine Arbeit mit unterschiedlichen Schwerpunkten von seinen engsten SchülerInnen fortgeführt, weiterentwickelt und in die Welt getragen. Eine davon, Laura Shannon war und ist meine wichtigste Tanzlehrerin, sie befasst sich seit 30 Jahren mit Frauenritualtänzen und Matriarchatsforschung. Durch Laura Shannon habe ich erfahren, die Würde des Weiblichen in den Frauenritualtänzen als Gabe zu achten und sie für mein persönliches Leben zu nutzen, und mich von ihr nähren zu lassen.
Tänze der Roma
Ungeordnete und wilde Kräfte in uns Menschen zu orten, bedeutet, mit unserer Instinktnatur verbunden zu sein. Meine frühe intuitive Ahnung von einem mir ganz fremden, sogenannten wilden, ungezähmten Leben bekam ich, als ich im Alter von ca. 4 Jahren Geschichten meiner Großmutter über die „Zigeuner“ hörte. Meine Vorfahren lebten in Rumänien, meine Großmutter war in Ungarn groß geworden und hatte nach Siebenbürgen geheiratet. Meine Familie hatte immer mit Romas gelebt, in mehr oder weniger respektvollem Umgang.
In den Erzählungen wurden die „Zigeuner“ als wild, nicht bezähmbar, geheimnisvoll beschrieben. Auch wenn oder gerade weil über diese Menschen gesprochen wurde, dass sie sich nahmen, was sie brauchten, keine Grenzen respektierten, entstand in mir große Neugier und ich glaubte auch ein geheimnisvoller Zauber gehe von ihnen aus. Ohne die Lebensform dieser Menschen aus heutiger Sicht idealisieren zu wollen, sehe ich diese Anziehung auch als einen Versuch ausgleichende und heilende Kräfte zu meinen Wurzeln hin zu lenken. Dort wo der Versuch nach Ausgrenzung in einer Generation geschieht, kann in der nächsten Generation das Gegenteil stattfinden um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Wenn wir ein Stück weiter zurück schauen zu unseren VorfahrInnen, so waren wir wohl alle irgendwann einmal auf der Flucht, erlebten Schmerz, weil wir vertrieben wurden und hatten Sehnsucht nach Zugehörigkeit und einem Zuhause.
Was lebt in den Tänzen dieser Menschen deren Musik meine Seele so tief berührt und erreicht?
„In den Tänzen der Romafrauen geht es nicht um wildes Loslassen und Aufgeben von Kontrolle. Das Gefühl von Kraft ist durch und durch erdverbunden, und die leidenschaftliche Liebe zum Leben und zum Selbst wird im Körper und im Kreis gehalten, die Energie wird nicht verschleudert, man verausgabt sich nicht, ganz im Gegenteil. In der Gruppe wird im sicheren Gefäß des Kreises die persönliche Kraft wahrgenommen und bestätigt. Das sind entscheidende Lektionen für uns als Frauen, die Gemeinschaft zu schaffen versuchen, die über nationale, religiöse, soziale und politische Grenzen hinausgeht und jede von uns in ihrem Starkwerden unterstützt. Romatänze scheinen besonders in der Lage zu sein, diese Kreativität für Frauen zu ermöglichen, individuell sowohl als kollektiv“.(5)
Über die Nationalität und religiöse Gesinnung jedes einzelnen hinausgehend, sind unsere enschlichen Sehnsüchte in etwa dieselben: Zugehörigkeit, Freude, Glück. Gehalten im Kreis durch die Gemeinschaft, erfahren wir im Tanz das Eingebundensein zwischen Himmel und Erde sowie Ausrichtung auf eine gemeinsame Mitte. Dadurch entsteht Orientierung. Wir erleben Zugehörigkeit zu unserem eigenen Körper indem wir ihn im Hier und Jetzt wahrnehmen und Zugehörigkeit zum Kreis, Verbindung zu anderen mit mir Tanzenden. Jede, die schon einmal in einem Kreis getanzt hat, wird sich an dieses Gefühl des Miteinanders ohne einander näher zu kennen erinnern. In den Tänzen gibt es keine Ausgrenzung: Sie gliedern ein, lassen alle daran teilhaben, egal welcher Gesinnung oder Religion und welchen sportliche Alters sie sind. Keinerlei sportliche Ambition und Bereitschaft zu akrobatischen Sprüngen ist vonnöten. Das heilende Element ist Verbundenheit. Der Kreis als uralte Form des Zusammenseins, steht für Miteinander und Verbindung und ist Symbol für Unendlichkeit. Wir finden im Kreis sowohl Individualität, als auch Gemeinschaft.
Wir müssen unser Heimkommen und zu Hause sein nicht über Zäune und Grenzen definieren. Unser Zuhause ist in uns, in dem Moment, in dem wir uns in uns niederlassen, uns umschauen und den Nachbarn/die Nachbarin als jemanden sehen, der/die dieselben Sehnsüchte, Wünsche und Bedürfnisse hat wie wir.
Mag.a Hannah Folberth-Reinprecht
Psychotherapie-Authentic Movement-Tanz
www.folberth-reinrprecht.at
Dieser Beitrag erschien erstmals im TAU-Magazin.
1)Lange R., (1975) The Nature of Dance,London; Mac Donalds and Evens; aus Living
Ritual Dance (1992) Laura Shannon
2)Laura Shannon, (2011) Ritualtanz in Griechenland, damals und heute
3)Laura Shannon, (2015) Traditioneller Kreistanz und die Wurzeln des Rituals
4) Joachim Bauer, (2006) Warum ich fühle, was du fühlst Kommunikation und das
Geheimnis der Spiegelneurone; München; Heyne Verlag
5) Laura Shannon, (2011) Heilung und Heimkommen, Romatänze als Weg zur Freude
Nächster Tanztermin mit Hannah: 8. November 24 in 1140 Wien, Infos hier
Titelbild von Larissa Breitenegger
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